Als die Eltern Bryony in den Armen hielten, waren sie gleichermaßen gerührt als auch enttäuscht. Ein Sohn hätte es werden sollen, ein Sohn wäre der perfekte Erstgeborene gewesen, ein Sohn wäre den Eltern so viel lieber gewesen; dennoch war das älteste Kind ein gesundes und aufgewecktes Kind, das ihren Eltern viel Freude bereitete – in der Kindheit fiel ja schließlich noch nicht zu sehr auf, wie unterlegen sie einem Jungen wäre, doch spätestens nachdem auch ihr jüngerer Bruder etwas älter wurde, begannen die belastenden Vergleiche. Zu Beginn hatte Bryony einfach angenommen, Männer könnten viele Dinge einfach besser als Frauen, und trotzdem nagte das Gefühl an ihr, zu versagen, obwohl sie alles ganz genauso machte, obwohl sie in der Schule tadellose Noten hatte und sowohl Gespür als auch Interesse am Bankwesen entdeckte. Ständig musste sie aber zurückstecken, vor ihrem jüngeren Bruder oder ihrem Cousin Aeron.

Sich durchzusetzen war ein Kraftakt für Bryony, die inzwischen 33-35 Jahre alt ist. Dass ihr Cousin sein Bankerbe ausschlug und einen anderen Weg wählte, gab ihr Aufwind und eine gute Position für ihre Arbeit in der Bank zu argumentieren. Sie setzte sich über den Willen ihres Vaters hinweg, begann eine erfolgreiche Laufbahn in der Bank und drängte ihn schier dazu, ihr eine Chance zu geben. Karrierestufe um Karrierestufe verhandelte sie immer wieder aufs Neue. Bis sie inzwischen ziemlich erfolgreich wurde und insbesondere auch von anderen für ihre knallharte Art geschätzt wurde. Marlenehose, streng frisierte Haare, kaum Makeup, manche sahen in ihr auch eine Frau, die unbedingt in der Männerwelt bestehen wollte. Ihre Mutter würde sie viel lieber am Herd sehen, mit einer Kinderschar und einem erfolgreichen Mann – aber wir können wohl nicht alles haben, würde Bryony wohl kontern.

(Berufsvorschläge: Anlageberaterin, die Bankrevisorin werden möchte? Konsortialreferentin?)

Kurz nach Bryonys Geburt klappte es dann doch endlich mit einem Sohn: Basil ist der ganze Stolz des ersten Livingston-Zweiges; er ist der Stammhalter, der Schatz und Augenstern der Eltern. Völlig egal wie erfolgreich Bryony noch werden möchte, sie wird ihren jüngeren Bruder niemals schlagen. Und Basil, der mit enormen Zuspruch und Rückhalt aufgewachsen war, schwankt stets zwischen Überheblichkeit und Verständnis; offensichtlich macht Bryony eine gute Figur in der Bank, aber andererseits ist es doch ganz offensichtlich sein Geburtsrecht einfach besser zu sein, oder nicht? Für ihn ist das Ausleben der klassischen Rollenverteilung ganz normal, merkt aber doch in vielen Frauenfiguren in seinem Leben, dass diese zu bröckeln scheint, und zumindest bei denjenigen, die nicht seine Schwestern sind, scheint ihm das Verhalten sogar zu imponieren.

Es lässt sich schon festhalten, dass zwischen der älteren Schwester und ihm ein Konkurrenzkampf entbrennt. Mit inzwischen 31-33 Jahren ist er nur wenig älter als sie, in der Bank haben sie eine ähnlich hohe Stellung und genießen auch ein ähnlich gutes Ansehen. Das sind viel zu viele Parallelen. Entsprechend ist das Verhältnis recht angespannt. Mit den jüngeren Schwestern, die sich eher den Erwartungen der Eltern gefügt haben, kommt er dafür besser zurecht, fraternisiert aber für gewöhnlich stark mit seinen Cousins.

(Berufsvorschläge: Anlageberater? Kreditmanager?)

Die Zwillinge Begonia und Azalea komplettieren den ersten Zweig der Familie. Schon von Kindesbeinen an wurden sie förmlich ermutigt, ihre Gleichheit zur Schau zu stellen. Sie wurden in gleiche Kleider gesteckt, mit gleichen Schleifen frisiert, und stets grinsten alle nett, wie lieblich die Beiden doch waren und was für hübsche Frauen sie werden würden. Dieses „Wer bin ich?“-Spiel lernten sie mit den Jahren zu perfektionieren: Im Grunde benahmen sich die Beiden, als wären sie eine Person und irgendwie etablierte sich bald, dass es „genügte“, wenn ein Zwilling anwesend war. Wenn die eine etwas tat, war es in Ordnung, dass die andere es nicht tat. Trotzdem entwickelten sich Unterschiede in ihren Persönlichkeiten, die nur herauszulesen sind, sofern die Zwillinge deutlich machen, wer wer ist: Begonia ist dabei die Zurückhaltendere, die, die die Regeln befolgt, die sich aufopfert, die zustimmt. Es kann ja niemand ahnen, dass sie in ihrer Schwester die Möglichkeit hat, auch einmal über die Strenge zu schlagen, sobald sie in deren Rolle schlüpft.

Vor einiger Zeit wurde die heute 28-jährige mehr oder minder zu einer Heirat überzeugt. Irgendeine der Zwillinge hätte es treffen müssen, warum also nicht sie? Zu Beginn dachte sie, die Heirat würde ganz glimpflich laufen, war ihr Ehemann doch auch zuvorkommend und freundlich, aber gerade in den letzten Monaten zog sich Begonia immer mehr zurück. Stille Wasser sind tief – vielleicht hat Begonia auch mehr Geheimnisse, als sie vor ihrer Schwester Azalea zugeben will.

(Berufsvorschlag: Sekretärin? Es sollte ein Beruf gewählt werden, in den Azalea als Sekretärin ungefähr tauschen könnte, ohne dass zu viel Fachwissen gefordert ist.)

(Es existiert hier noch ein Einzelgesuch zu Begonia und hier auch ein Gesuch zu deren Ehemann.)

Das Gegenstück von Begonia ist ihr Zwilling Azalea. Seit sie denken können, sehen die Beiden identisch aus, kleiden sich gleich, sprechen gleich, verhalten sich gleich – sie haben einstudiert, jeglichen Unterschied zwischen sich auszumerzen und jeweils die perfekte Kopie der anderen sein zu können. Nahtlos können sie schon immer Rollen tauschen. Mit wem man also spricht, ist nur dann deutlich, wenn es die Beiden wollen, andernfalls kann man sein, dass man an der Nase herumgeführt wird. Ganz sicher kann man sich also nicht sein, wen genau man vor sich hat. Azalea fällt dabei die Persönlichkeit der wilderen, freieren Schwester zu. Während Begonia sich oft aufopferte und die beobachtete Schwester war, lebte sich Azalea aus, machte erste Erfahrungen und teilte diese dann mit Begonia, sobald sie wieder die Rollen tauschten. Die Identitäten der Beiden hatten damit einen fließenden Übergang, sodass sich die Beiden manchmal selbst hinterfragen müssen, wer sie eigentlich selbst sind.

Besonders für Azalea ist das Tauschen der Rollen wichtig. Warum? Das weiß sie vermutlich selbst nicht. Anders kennt sie es eben nicht, und irgendwie hat sie auch Angst davor, allein zu sein. Zudem hat sich die 28-jährige etwas zu sehr in den Ehemann ihrer Schwester verguckt. Nur dieser weiß nichts von seinem Glück nicht nur mit einer Schwester, sondern indirekt mit der anderen ebenfalls verheiratet zu sein. Langsam dämmert ihn aber, dass etwas nicht stimmen kann, wenn sich seine Ehefrau mal komplett zurückzieht und mal äußerst nah kommt. Azalea weiß nicht, wie sie sich noch verhalten soll.

(Es existiert hier noch ein Einzelgesuch zu Begonia und hier auch ein Gesuch zu deren Ehemann.)

Anders als viele der Livingston-Nachkommen entschied sich Aeron gegen eine Ausbildung bei der Bank und für eine Ausbildung zum Astator. Der Grund war sein Onkel - Lewis Sharp - mit dem der junge Livingston-Erbe immer viel zusammen gemacht hatte. Natürlich waren seine Eltern nicht begeistert, aber mittlerweile können sie darüber hinweg sehen und freuen sich wenn ihr Sohn von seinen Außendienst-Einsätzen wieder nach Hause kommt.
Vor kurzem ist Aeron auch wieder nach Stellans gezogen. Der Grund? Sein bester Freund wurde eines Nachts tot auf den Straßen der Stadt gefunden, ein ungeklärter Mord? Eine ungeklärte Todesursache? Samba's Schicksal hat Aeron nicht losgelassen. Ebenso wenig wie dessen Familie, die irgendwie auch zu seiner gehört.

Lilac ist eine ehrliche und zuweilen etwas egozentrische Persönlichkeit. Sie war immer in Aeron's besten Freund Samba verguckt, hatte sich aber letztlich nie getraut eine Verbindung zu ihm herzustellen. Sein Tod nimmt auch sie sehr stark mit, wenngleich sie versucht das nicht so nach außen dringen zu lassen.
Anders als ihr Bruder ist Lilac in der Familienbank tätig, jedoch als einfach Empfangsdame. Ihr liegt nicht viel an dem Beruf, doch an ihrer Familie, weshalb sie sich jeden Morgen auf's neue dorthin schleppt. Privat zeichnet sie unfassbar gerne, malt mit Ölfarben und verkauft auch das ein oder andere Bild an einen Interessenten. Natürlich ist sie weit weg davon, der nächste Picasso zu werden, doch man darf doch noch träumen dürfen?

Auch wenn Cyprus nicht zu den ältesten, männlichen Livingston-Kindern gehört, wird auch er als Stammhalter gesehen und verspürt einen gewissen Druck auf seinen Schultern, immer alles korrekt zu tun, immer allen Erwartungen zu entsprechen und den Namen voller Stolz gebührend weiterzutragen. Wieso sich seine ältere Cousine so unbedingt darum kämpfen möchte, versteht er nicht so wirklich, denn so richtig scheint er sich in seiner Rolle nicht wohlzufühlen. Leider hatte er nicht den Mut wie sein Cousin Aeron sich gegen die Bank zu entscheiden und jetzt fühlt er sich zu alt, als dass er etwas Neues ausprobieren wollte. Und im Grunde macht er seinen Job ja auch ziemlich gut. Er ist dazu noch sehr sicher und aussichtsreich. Sollte er also wirklich mal eine Familie ernähren wollen, hat er damit gute Karten eine Partnerin oder einen Partner zu finden. Aber es gibt so viele schöne Töchter und Söhne auf dieser Welt, wie soll man sich da für eine Person entscheiden? Ist Liebe nicht auch etwas, das man mit mehreren Personen teilen sollte?

Der 30-32-jährige findet seine Rolle zunehmend ermüdend. Sein jüngerer Bruder ruht sich aber darauf aus, dass er „nur“ der Zweite ist. So richtig hängen lassen, kann Cyprus ihn also auch nicht. Trotzdem beneidet er ihn um die Freiheiten, die er sich durch Cyprus Folgsamkeit erkauft hat – er muss deutlich mehr Vorsicht walten lassen, wann immer er seine Eskapaden auslebt. Einen Skandal will er auf alle Fälle meiden. Wenn die Bank nicht so schrecklich eintönig wäre…

(Berufsvorschlag: Kreditmanager? Risikomanager?)

Florent ist der mittlere Sohn des dritten Livingston-Zweiges und hat das Gesicht eines unschuldigen Bubs selbst mit fast 30 Jahren perfektioniert: Dieser Unschuldsmiene kann man wohl nicht böse sein. So schlich sich Florent schon durch jeglichen Ärger in seinem Leben. Nur einmal kurz die Mundwinkel nach unten ziehen, belämmert gucken und sobald er aus dem Blickfeld verschwunden war, fröhnte er dem schönen Leben, ließ es sich gut gehen und entdeckte so manche Gelüste dieser Welt. Denn entgegen seinem Bruder und so mancher Cousine und Cousin hat Florent das große Privileg, „nur“ der Zweitgeborene und damit aus dem Schneider für vielerlei Angelegenheiten zu sein. Während sich die anderen um die Positionen in der Bank und wer das liebste Bankkind ist, streiten, legt Florent die Füße hoch und hält sich daraus einfach heraus.

Kürzlich hat er Gerüchte in der Familie gehört, es soll wieder jemand verheiratet werden. War der Heiratsmarkt in den 1940er Jahren nicht endlich erschöpft? So viele Personen wählten ihre Ehepartner selbst. Warum nicht auch die Livingston? In ihm sträubt sich alles gegen diese veraltete Tradition und er hofft einfach nur inständig, dass es seine kleine Schwester trifft und bloß nicht ihn. Oder seinen älteren Bruder. Im Grunde einfach jeden, nur nicht den 26-28-jährigen.

(Berufsvorschlag: Firmenkundenbetreuer? Bankrevisor?)

Der dritte Livingstonzweig wird mit dem jüngsten Kind, Jasmine, abgerundet. Auch Jasmine wurde mit den Werten einer Livingston erzogen – sei demütig und beuge dich dem Willen der Familie. Eine große Verantwortung und eine Bürde zugleich. Als junges Mädchen war sie vielmehr ein Wildfang, wollte draußen mit den Buben spielen, auf Bäume klettern und allerlei Schandtaten betreiben. Mit der Pubertät entdeckte sie, dass die Einstellung ihrer Familie nicht das Nonplusultra war. Es gab Frauen, die selbst über ihr Leben entschieden und ihr Schicksal in die Hand nahmen. Viele von ihnen übten sogar einen Beruf aus und verdienten ihr eigenes Geld. Ihre ersten Züge des Feminismus und Aktivismus wurden schnell von der Familie erstickt. Was wäre sie auch ohne ihre Familie? War sie sich ihrer Privilegien überhaupt wirklich bewusst? Wie ehrlich war sie in ihrem Wunsch nach Freiheit, wenn sie nicht über ihren goldenen Käfig hinaussehen konnte?

Ihre Worte und Gedanken verfasst sie in unveröffentlichte Berichte, sie sind ihr kleines Geheimnis. Ebenso wie ihre Homosexualität, welche sie für sich behält. Mit ihren Gedanken und ihrem Vegetarismus hatte sie schon unangenehm angeeckt und dann hatte sie es durchgesetzt in der Bank als Empfangsdame arbeiten zu dürfen. Die Aussicht mit einem Mann verheiratet zu werden löst in ihr Panik aus. Doch wer war sie, wenn sie nie wirklich sie selbst sein konnte?