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Betont kühl, gar gleichgültig, ließ sie seine Anwesenheit über sich ergehen. Als wenn in ihrem Inneren kein Sturm wüten würde, der so grausam anzusehen war, dass nicht einmal Velma den Blickkontakt mit ihm aufzunehmen vermochte. Ihre Hände, sehr bleich und sehr rot an einigen Stellen, krampfte sie bei seinen Worten in ihre Handschuhe. Ihre Gliedmaßen zitterten; vor Kälte, vor Entrüstung, vor Hilflosigkeit. Wenigstens benutzte er nicht länger ihren Vornamen, so als wären sie einander Bekannte; aber selbst das weigerte sich Velma ihm positiv zuzuschreiben.
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Ihr Zorn hingegen, der sie erfüllte, als sie sich in der Wohnung eben dieses Mannes wiederfand und sich um ihn kümmerte, nur um von ihm verhöhnt zu werden, war das komplette Gegenteil davon. Er hatte sie belebt - und das machte sie Oswin Cresswell noch stärker zum Vorwurf. Wenn sie jemand aus ihrer unverwüstlichen Einsamkeit holte, dann sollte es ihre Familie sein, ihre Brüder, ihre Eltern, vielleicht sogar Lydia und Paula, aber sicherlich nicht der einstige Pilot, der wohl glaubte, sie schikanieren zu dürfen.
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Und er hatte ausgesehen, als würde er in ihrem Gesicht etwas suchen, das sie lange nicht mehr in sich trug - vielleicht eine Jugend, die sich mittlerweile wie weggewaschen fühlte. In dem Moment hatte sie sich uralt gefühlt, schal und abgenutzt.
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Stattdessen war ihr sogar, als würde ihr mit jedem Schritt leichter ums Herz werden, wie als entfernte sie sich an Cassius’ Arm gehend von einer zentnerschweren Version ihrerselbst; von einer mit seelischem Ballast am Meeresboden verankerten Velma Lamb; als würde sie aufsteigen wie eine Luftblase, so leicht und voller Auftrieb, dem Mondlicht entgegen.
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[...]und eigentlich hätten sie sich hier voneinander verabschiedet, wenn die Straßen nicht plötzlich in eigenartige Verstummung gefallen wären. Wie als würde für eine Sekunde kein Geräusch auf der Welt existieren. Und als sie doch wieder existierten, die Geräusche, wirkte das Dunkel ein wenig dunkler, die Schattentiefen tiefer.
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Das ganze Jahr lang hatte sie sich wie im Winterschlaf gefühlt; besonders der Frühling war ein Albtraum gewesen. Im Sommer kam die nächste Qual, bis auf einige helle Momente, in denen sie sich hatte ablenken können. Erst mit den kalten Monaten kehrte eine Ruhe in ihr ein, wie als würden Schnee und Eis auf den Straßen die hitzeerfüllten, flammenden Gefühle zum Gefrieren bringen - was besser war, als sie verarbeiten zu müssen, denn das wollte und wollte ihr nicht gelingen.
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Es hätte auch sie entwurzeln und verunsichern können, aber es war erstaunlich, wie resilient sie geworden war; sie war viel stärker, als sie es vor dem Tag, an dem Theo sich freiwillig zum Militärsdienst gemeldet hatte, gewesen war; wenigstens eine gute Sache war daraus hervorgekommen: ihr Inneres lag nicht länger frei, sondern gut behütet hinter Kalk und Kruste.
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Zu ihrem Ärgernis, konnte sie ihn halb in der Scheibe gespiegelt sehen; die feine Zunge seines Haaransatzes, der elegante Schwung seiner Augenbrauen. Wenigstens nicht seinen dreisten Mund, den er mit hässlichen Flüchen füllte, als würde er sich an ihnen den Durst stillen.
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Sie wühlte sich durch ihre Gefühle wie durch Morast, bis ihre Nägel vor Dreck starrten.
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Stattdessen rief er ihren Namen, als hätte er ein Recht auf ihn. Fing ihr Lächeln ab, das nicht für ihn bestimmt war, wie ein Dieb.
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Aber das, was sie ihm tatsächlich übel nahm, was sich hinter diesem überaus unansehnlichen aber nicht verbotenen Fehler in seiner Natur verbarg, war, dass er ein Soldat war. Ein Pilot, wie sie mittlerweile wusste, weil er es ihr im Fieber verraten hatte. Sie nahm ihm übel, dass er das war, was Theo nicht war: Überlebender eines Krieges, der so viele Menschenleben verlangt hatte, sich daran den Bauch satt gefressen hatte.
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Als sie ihren Namen vernahm, drehte sie sich, das Lächeln noch auf den Lippen, zu der ihr unbekannt erscheinenden Stimme um - war es doch nicht ungewöhnlich, dass die Nachbarn sich hier grüßten.
Aber der Mann, der ihr unabsehbar hinterher eilte, war kein Nachbar, sondern Oswin Cresswell. Sie erkannte ihn sofort, und doch dauerte es einen Moment, bis dieses Erkennen auch ihr Unterbewusstsein erreichte und ihr das Lächeln stahl. ![]()
Immer wieder waren sie im Laufe der letzten zwei Jahre auf sie zu gekommen, suchten vor allem mit ihren Flammenbriefen den Kontakt zu ihr, sodass Velma sich manchmal wie eine Hochstaplerin fühlte - sie täuschte vor, eine gute Freundin zu sein, dabei war sie es schon seit langer Zeit nicht mehr. Sie steckte zu sehr in ihren eigenen Tragödien fest, um andere in ihrer vollen Komplexität wahrzunehmen.
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In Wahrheit waren es Fettnäpfchen, in die sie in dieser Aneinanderreihung von Augenblicken unaufhörlich trat. Eins nach dem anderen, wie als wollte sie einen Rekord aufstellen.
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Für sie war er stark wie der Stamm der riesigen Eiche, an dessen horizontal gestreckten Armen sie früher Schweinebammel geübt hatten, oder von dem aus sie Kirschkernspucken spielten.
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Ihn zu vermissen, war ähnlich wie ihm böse zu sein - es fühlte sich für sie fast gleich an.
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Kinder, die jetzt erwachsen waren und sich manchmal fragten, ob sie vielleicht eine Zeit der Tobsucht hätten zulassen sollen, anstatt immer gefällig zu sein, denn dann wären sie jetzt nicht so konsterniert oder so in sich gekehrt, wenn man sie auf ihr Wohlergehen ansprach, oder so angefressen, wenn man sie - wieder einmal - überging, geschweige denn so abwesend, wenn der Winter seine eiskalten Hände an die Fensterscheiben presste.
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Ihre direkte Art war im besten Fall erfrischend und im schlimmsten herausfordernd, aber sie war um den perfekten Satz, der einen aus der Reserve lockte, verlegen. Schlimmer als das: sie war eine verkopfte Trübsalblaserin und ganz tief zwischen ihren Rippen saß ein unziemliches Gefühl des Eigennutzes, das kein gutes Wort zu glätten vermochte.
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Erst fiel ihr dabei nur am Rande auf, wie gedimmt die Lichter waren. Wie seltsam dick die Luft erschien, wie Sirup, der einem die Lunge ertränkte, obwohl die Luft klar und winterlich sein sollte.
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”Convenient, then, that I am neither your wife nor your sweetheart.”
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Sie musste sich von ihm abwenden, damit sie ihm nicht ins Gesicht schlug.
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Bis er tot gewesen war und sie nur noch ein paar veraltete Briefe gehabt hatte, und Erinnerungen, die sie verfolgten wie Schatten, obwohl sie eigentlich gut und schön und lichtdurchtränkt waren - nur Theodores Tod hatte sie fahl gezeichnet. Hatte ihnen die lebensspendende Kraft, die Farbe, die Sättigung geraubt. Sie wusste nichts darüber, wie Soldaten sich untereinander benahmen, aber sie wusste sehr wohl, dass Theo sie niemals derart angefahren hätte - nicht einmal unter den schlimmsten Schmerzen.
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Wenigstens sitzen sollte er, selbst wenn er sich weigerte, sich hinzulegen, vermutlich weil es ihn in seiner Männlichkeit verletzte.
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Rau war auch diese Fantasie, in die sie sich stürzte, wie in eine sich aufbäumende Welle. Sie war fahrlässig in ihren Träumen, und wäre sie es nicht gewesen, hätte sie vielleicht schneller vermocht, sich wieder zusammenzureißen, die Verbindung zu ihren Hoffnungen zu kappen und sich von ihnen zu erholen, bevor Oswin sie ihr noch vom Gesicht ablas.
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Sie versuchte, streng zu klingen, so wie ihre Mutter es zustande gebracht hätte, aber in Velmas Stimme lag noch die jugendliche Verletzlichkeit, die nicht einmal Theos Verlust hatte ausbrennen können.
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Die irritierende Hoffnung. Der Traum, der ihr genommen worden war. Sie hatte Theo nie helfen dürfen, was es umso bitterer machte, diese sinnlose Hilfe nun einem anderen Menschen zukommen zu lassen, auch wenn sie wusste, dass es vernünftig war. Nicht nur das, was man von ihr erwartete, sondern auch etwas, das sie niemandem vorenthalten würde.
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Velma sehnte sich fort aus diesem Haus, in dem zu viele Stimmen das Geräusch des Regens durchbrachen, selbst wenn sie daheim ebenso selten tatsächlich allein war. Aber die Stimmen und Worte ihrer Eltern wie auch Geschwister waren ihr vertraut. Sie zuckte nicht zusammen, wenn sie ihre Schritte vernahm. Sie musste sich nicht auf das Knistern des Feuers oder das seidene Geräusch ihrer Finger auf den Buchseiten konzentrieren, um die Fremde auszublenden und Wohlempfinden zu verspüren.
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Der Regen, der gestern auf das Land eingeprügelt und die Wiesen unter Wasser gesetzt hatte, klopfte nur noch zärtlich auf die Dächer der Stadt. Wie ein Liebhaber, der eingelassen werden wollte. Die Scheiben benetzt von Atem, seufzten die Häuser tief und lang, ihre Dielen knarrten vor lang währendem Schmerz.
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Sie war keine Sanari, aber sie konnte ihm die Lehren ihrer Mutter zukommen lassen, konnte die Winde der Isle of Skye verpacken und sie nutzen, um Atem in seine Lunge zu pressen.
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Er könnte jeder sein, er könnte Theo sein, der stolz auf seine Ausbildung gewesen war, stolz auf den Dienst, den er an seinem Land tat, stolz aufs Sterben. Ein stolzer Toter war er, und Velma sollte ihm vermutlich auch noch dankbar dafür sein.
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