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Alle Bonfes wussten, wie man halb unsichtbar wurde, und doch waren sie nie unsichtbar genug.
Henry Owsley III. war einer der Mitschüler, von denen Melchior sich eher ferngehalten hatte. Dazu musste man jedoch erwähnen, dass Melchior vor den meisten Mitschülern davongelaufen war und sich lieber allein durch die drei Jahre geschlagen hatte; ähnlich wie Maldwyn, nur weniger weinerlich.
Alle Bonfes wussten, wie man halb unsichtbar wurde, und doch waren sie nie unsichtbar genug.
Geh rein, es wird schon nicht so schlimm, sagte er sich nun eben selbst. Versuchte das Echo von Chwaers Stimme zu übertönen, das sich tief in sein Bewusstsein gegraben hatte. Er wusste ja doch immer, was sie sagen, wie sie schreien, weinen, zetern würde; dafür musste sie nicht einmal hier sein.
Ein weiterer Schritt war, sich selbst dafür zu hassen, dass man ihn als kurios dafür empfand. Dass man ihn manchmal sogar als unhöflich abstempelte. Maldwyn Bonfe hingegen war nicht unhöflich. Maldwyn war das Gegenteil davon. Er zerging vor Weichheit, während diese aus Melchior längst ausgezogen war.
Auf seinen Bruder übertrug er jedoch das, was er sich selbst nicht zustand: dass man sich um ihn sorgte. Natürlich wollte er diese Rolle gar nicht einnehmen, denn wenn Maldwyn auch nur ein klein wenig nach ihm schlug, würde er sich dafür schämen. So, wie sie es als Bonfes auch tun sollten: sich schämen, sich entschuldigen, sich dann für die Entschuldigung schämen.
Vielleicht böten sich dafür auch die Ferien an, selbst wenn Melchior die Erfahrung gemacht hatte, dass das Kollegium während jener im Schloss so viel vorzubereiten hatte, dass man diesem kaum aus dem Weg gehen konnte. Und manche von denen waren so unerträglich geschwätzig, dass er sich lieber mit Terpentin übergossen und selbst angezündet hätte, als sich der Tortur einer solchen Unterhaltung auszusetzen.
So viel Alltag, während man darauf wartete, dass irgendetwas passierte, das einen aus dem Takt brachte — obwohl man sich zur gleichen Zeit vor nichts mehr fürchtete als davor; gerade Melchior ging es so, der doch an seine Routine klammerte wie an die Arme einer liebenden Mutter.
Während seiner Ausbildung zum Archivar und der Fortbildung zum Kurator hatte er darauf gewartet, dass das echte Leben begann. Seit das echte Leben für ihn begonnen hatte, wartete er darauf, dass es sich lebenswert anfühlte und nicht wie ein niemals endendes Zähneputz-Ritual, dicht gefolgt von der täglichen Rasur, dem Kämmen der matten, dunkelbraunen Haare, dem Glätten des Tweed Anzuges und dem Binden der Schnürsenkel.
Melchior hasste es, zu warten, aber wenn er ehrlich mit sich wäre, würde ihm bewusst werden, dass sein ganzes Leben dem unerträglichen Stehen in einer Warteschlange ähnelte.
Es würde eine fähigere Hand als die von Melchior benötigen, zusammenzufassen wie auch zu deuten, welche Umstände ihn ins Polilla führten; eine urige Kneipe unterhalb der Brücke nahe Churchstreet, in die ihn unter Umständen vermutlich nur der Ruf eines echten Freundes geführt hatte — nur dass Melchior kaum Freunde hatte.
Du erscheinst mir normal. Aber ich muss auch akzeptieren, dass ich normal bin, und dass unsere Eltern normal sind.
Wusste Noah, wie verwirrend das alles für Melchior sein musste? Ihre Worte waren wissend, in ihnen lag kein Zweifel, kein affektierter Charme, nur eine schmerzhafte Klarheit. Melchiors Lippen trennten sich voneinander, Worte sammelten sich in seinem Mund. Sie sprach einfach aus, dass sie ihn gemocht hatte und wahrscheinlich immer noch mochte, als würde sie die Silben wie zufällig aus einer Spielzeugkiste holen und mit kindlicher Freude zusammensetzen.
Da war er. Sein Bruder, verschwitzt, außer Atem, als wäre er gerade einen Marathon gerannt – wenn er rannte, dann aber sicherlich nur vor seinen Pflichten davon.
1923 ist mal ein Schüler verschwunden. Spurlos. Einfach schwupps, da war er weg. Bestimmt haben ihn die Wände gefressen, panik-plapperte Chwaer sich in die Ausgeburt einer Manie, der Melchior nicht gewachsen war. Sie versuchte ihm immer eine Hilfe zu sein, und doch war der Kolibri zu kaum mehr zu gebrauchen, als dazu, Melchior einen Kreislaufkollaps mit ihrem Gerede ebenso wie mit dem durch-den-Raum-Flattern zu bescheren.
Ihm war Maldwyn auch so schon unangenehm genug, er musste Irene nicht noch in Erinnerung rufen, dass sie Brüder waren.
Melchior Bonfe war stets um Höflichkeit bemüht, aber in diesem Augenblick wurde seine Stimme scharf, sein Ton so beleidigend, als wäre er furchtlos. Nicht einmal er konnte Ravi Sharma ertragen, selbst wenn er es hasste, dass der andere anscheinend keine andere Sprache als die der Respektlosigkeit verstand.
Leider war es ihm nicht möglich, den anderen einfach wegzuignorieren. Denn während Melchiors Erstarren ganz klar darauf hindeutete, dass er nichts mit dem anderen Mann anzufangen wusste, schnatterte Ravi einfach weiter, als wenn es vollkommen normal war, dass sie einander 1.) des Nachts in der Bibliothek über den Weg liefen, und 2.) sich über das Fehlverhalten von Schülern austauschten.
”Wie … lehrerhaft von dir”, murmelte Melchior.
Er konnte es sich nicht einmal vorstellen, seinen Vater zu bitten, sich zu setzen, oder gar seine Mutter am Krankenbett zu besuchen und zu sagen: Ich werde die Schule nicht beenden. Rhoslyn Bonfe würde auf der Stelle eines raschen Todes sterben. Ihr Vater würde sich nie wieder davon erholen. Und dann, was dann? Ja, dann würde Melchior vor Reue ebenfalls erkranken, bettlägerig und böse werden, vor sich hin siechend, verrückt verrückt verrückt.
Melchiors Unterkiefer sackte herab und ihm rauschte so deutlich das Blut in den Ohren, dass Chwaers Flügel noch schneller schlugen. Bald käme bei ihnen beiden der Herzinfarkt, den er als chronischer Hypochonder schon tausendmal "fast erlebt" hatte.
Er wünschte sich fast, Maldwyn würde ihn abwehren, ihn zurückweisen, ihm sagen, er solle nicht den großen Bruder spielen, denn wirklich wohl fühlte sich Melchior nicht damit. Aber natürlich geschah nichts dergleichen. Noch kein einziges Mal in seinem Leben hatte Maldwyn ihm gegenüber die Stimme erhoben, sodass es fast den Eindruck erweckte, als sei er gar nicht dazu in der Lage.
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