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Was die eine konnte, konnte die andere doch schon lange — das Bedürfnis, andere zu übertrumpfen, war durch und durch fedorovisch.
”Und einladend ist es obendrein. Perfekt, um junge Frauen zu entführen. Du bist nicht zufällig insgeheim ein Blutbaron, der nur eine verlockendere Gestalt angenommen hat, weil er sich für sein lichtes Haar, den blutleeren Teint und die gammeligen Zähne schämt?”, flötete Polina um ihre eigene Nervosität damit von sich zu schütteln , bevor sie sich im Eingangsbereich des Hauses aufrichtete.
Die Vorzüge erschlossen sich Polina auch im Inneren nicht. Aber immerhin zögerte sie nicht, dem Wölfchen zu folgen, selbst wenn sie kurz vor ihrem inneren Auge die morgigen Schlagzeilen (vermutlich im Falkenkurier abgedruckt) stehen sah: Jüngste Tochter der Fedorov-Dynastie ermordet in verlassenem Haus aufgefunden — ihr Vater würde sie direkt ein zweites Mal umbringen, sollte ihr Tod als Erstes vom Falkenkurier abgedruckt werden; besser, sie starb nicht. Besser, sie starb spektakulärer.
”Jetzt bin ich also schon dein Rotkäppchen?” Ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel, aber in ihren Augen stand vor allem die Gewissheit, die andere ertappt zu haben — nur bei was, wusste Polina Fedorova vermutlich selber nicht. Dafür war sie dann doch nicht weltgewandt genug, sondern bewegte sich noch immer zu sehr im sicheren Kielwasser des eigenen Familiennamens und der Schatten ihrer Geschwister, von denen manche tiefer und manche flacher waren. In einigen könnte man verschwinden; aus den meisten versuchte Polina jedoch verzweifelt herauszuklettern, wie ein Tier aus einem menschgemachten Loch.
Maksim gab sich lässig. Lehnte sich gegen einen Holzbalken, verschränkte die Arme vor der Brust. Er erinnerte sie doch mehr an Nikolay als an ihren Vater; erinnerte sie an dessen Bemühtheit, sich ja niemals in die Karten blicken zu lassen.
Es war ja nicht nur das Haus der Fedorovs, dieses Anwesen in Leningrad, in das sich Dariya Fedorova verkrochen hatte wie eine Königin in ihr Schloss aus Eis, in dem sich ein Lachen wie ein Fluch in der Kirche anfühlte, sondern auch war über ihren Vater zu lachen, verboten. Sicherlich gab es Gesetze dagegen.
”Warte mal — du wohnst nicht ernsthaft in einer der Ruinen neben dem Moor, oder?” Sie war, im Gegensatz zu ihren älteren Geschwistern, hauptsächlich in Stellans aufgewachsen. Sie kannte die Geschichten, die sich nun federleicht in ihren Gehörgang schmiegten, wie Erinnerungen an eine wimmernde Melodie.
Polina würde vermutlich nie eine sein, auch wenn sie den nötigen Stolz besaß, auch wenn sie hochnäsig auf den Rest der Welt hinab blickte; ihr mangelte es an der natürlichen Eleganz. Sie war forsch, ohne jedoch offen ausfallend zu sein. Mehr Kante als weiche Fuge, und doch nie schneidend genug.
Maldwyn war das Opferlamm — eine sensible, leicht zu penetrierende Hülle, an denen die Geister rupften und zerrten, als würde ein jeder von ihnen sich einen Weg in seinen Brustkorb rempeln wollen. Er konnte einem durchaus leid tun, aber da der Geist Maldwyn lenkte und dieser sich vehement wehrte, hatte Polina keinen Fitzel Mitleid übrig. Später vielleicht. Wenn das alles überstanden war. Falls sie es überstanden.
Sie wollte Pavlas Bewunderung, die über das verpflichtende klar-bewundere-ich-dich-du-bist-ja-meine-Schwester hinausging.
Wie abgebrüht, dies hier als Menschenopferung zu bezeichnen. War es nicht, oder?
"Die zweite", behauptete Polina ungerührt, die Augen hell über das Profil der Fremden wandern lassend. "Zur ersten hat dich wohl niemand eingeladen?"
Sie redete sich sogar ein, dass sie ihren Schulabschluss nur aus diesem Grund vermasselt hatte. Um anders als Pavla zu sein. Anders, aber eindeutig nicht besser.
Was Maksim von ihr hielt, war ihr hingegen so ziemlich egal. Er kannte sie nicht, und sie ihn nicht. Und dieser Distanz wohnte eine gewisse Sicherheit inne, denn so vermochte das Urteil ihres Bruders sie auch nicht zu verletzen. Ob sie es insgeheim vermisste, ihren älteren Geschwistern nahe zu sein, versuchte sie selbst nicht zu erörtern – wer wusste, was für Abgründe sich dann in ihrem Inneren auftun würden.
”Also ich weiß, was ich tue”, erwiderte sie grimmig. ”Ich geh einfach wieder ins Bett. Проща́й (Prostscháj, lebe wohl), ihr Versager!” Mit diesen Worten drehte sie sich wieder zu der Flügeltür in ihrem Rücken um, durch die sie gekommen war, und stieß sie auf. Doch dahinter kamem weder ihr Schlafsaal, noch die Haupthalle zum Vorschein, sondern nur ein langer, gräulicher Korridor, wie er zu Hauf im Schloss zu finden war.
Das hier konnte sich nur um einen Albtraum handeln. Weil sie nur in einem Albtraum im gestreiften Schlafanzug und mit Plüschpantoffeln an den Füßen vor ihren Mitschülern stehen würde. Vielleicht war sie nicht so eitel und eingebildet wie Zenaida Falkenrath-Blum (ihrer Meinung nach war sie es sogar ganz bestimmt nicht), aber sie besaß durchaus ihren Stolz.
Jemand wie ihr Bruder Maksim hatte schlicht weg Probleme mit weiblicher Exzellenz, und aus dem Grund war er ihr gegenüber auch so unausstehlich — ihre geballte Intelligenz schüchterte ihn so sehr ein, dass er kaum anders konnte, als sie zu beleidigen.
Zu viele Jahre trennten sie voneinander, und wenn sie von Czar sprachen, dann nie, als wären sie, die Kinder, eine Einheit. Nein, sie bildeten keine harte Front gegen ihre Eltern, sondern ein jeder schien nur für sich in diesem abstrusen Konstrukt der Familie zu kämpfen. Sie alle versuchten den Kopf über Wasser zu halten, obwohl die Flut sie unabänderlich unter sich begrub.
Wenn es lediglich Stolz wäre, der sie zu guten Fedorov-Kindern machen würde, hätten weder Czar noch Dariya jemals etwas an ihrem Spross auszusetzen — außer vielleicht an Agnessa.
Zwei Schüler befanden sich mit dem Rücken zu ihr — ein Schopf in der Farbe getrockneten Weizens ( Maldwyn Bonfe ), einer weißblond wie ein Streifen Mondlicht ( Mira Oswald ) —, in der Nähe tauchten noch zwei weitere Schülerinnen auf. Zenaida Falkenrath-Blum. Das Bellandi Mädchen, Sofia Bellandi. Und dann war da Polina, die in ihrem gestreiften Schlafanzug wie erstarrt zwischen Tür und Angel stand und nichts hervorbrachte, außer ein irritiertes: ”Was macht ihr in meinem Badezimmer?”
Dass Agnessa ebenso, wenn nicht sogar mehr, ihr Fett weg bekam, fiel ihr nicht sonderlich auf. Wieso auch? Agnessa war schon immer der Boxsack aller gewesen, das war nichts Neues, sondern sorgte für ein gesundes Klima zwischen den Geschwistern und war vermutlich das Einzige, auf das sie sich einigen konnten.
Wie abgesprochen und doch typisch in spontaner Fedorov-Manier, verteilten sich die Geschwister im Raum. Pavla und Maksim saßen, Miron befummelte seine Kamera, und dann tauchte Agnessa auf und begrüßte sie so förmlich, als befände sie sich auf einem offiziellen Staatsbesuch.
Zugleich war es beruhigend, dass unter den Geschwistern immerhin alles beim Alten war. Kaum betrat Maksim den Raum, verbreitete er mit seinem zehn-Jahre-Verstopfung Gesichtsausdruck auch schon eine herrlich familiäre Stimmung.
elbst wenn Polina sich denken konnte, dass wohl etwas gewaltig im Argen sein musste, so lang wie sich ihre Mutter bereits in Leningrad verkroch wie eine schmollende Muschel, konnte sie sich nur schwer vorstellen, dass sie den Geburtstag ihres Ehemannes verpassen würde. Wenn ihr irgendetwas von Bedeutung war, dann doch der Schein. Innerlich konnte alles noch so verrottet sein — solange es außen glänzte, war es gut genug.
Besser wäre noch gewesen, sie wären alle nach ihrer Mutter geschlagen; willensstark und erfolgreich, aber auch kalt wie der russische Winter. Hauptsache, sie kamen nicht nach Agnessa.
Dabei besaß ihre Verwandtschaft mit den Falkenrathas für Polina durchaus einen verbotenen Reiz, dem sie vielleicht nachgegeben hätte, wenn Zenaida nicht so schön gewesen wäre, wobei das Hässliche an ihr war, dass sie dies wusste.
Schüler, die sich heimlich am juckenden Hintern kratzten, zählten da ebenso sehr dazu wie strebsame Streber (mit Ausnahme ihrer Zwillingsschwester) oder die bübischen Sportskanonen mit den zu kurzen Shorts und dem zu lockeren Umgang mit der Ringelnatter, die unter dem Stoff hin und her flappte wie ein nach Luft schnappender Fisch.
Polina war keine zwei Sekunden im Raum angekommen und von Miss Chavez zu den Stühlen verwiesen worden, als sie sich Maldwyn bereits im Tütü vorstellte, im hübschen Kleid aus Krepp mit Netzüberzug, in sanftem Rosé mit einer Tiara und fein geschwungenem Arm wie ein Bogen, wie der Flügel eines Schwans.
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