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Welch Ironie, wenn man doch bedachte, dass dies monatelang das gewesen war, wonach er gesucht hatte. Eine Erinnerung daran, zu leben; lebendig zu sein, selbst wenn jene noch so beschämend sein mochte. Nun sehnte Oswin sich danach, sie von sich schälen zu können.
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Er war zu weit gegangen und nun musste er die Konsequenzen schmecken, so wie ihn auch sein Bruder die Konsequenzen seiner Feigheit hatte schmecken lassen. Das einzige, was sie voneinander unterschied, war die Tatsache, dass Velmas Briefe sich nicht in blau-violetten Farben seinen Hals hinab über seinen Oberkörper zeichneten - doch das Gefühl der Schuld blieb fast das gleiche.
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Sein Blick legte sich auf ihre Hände, beobachtete sie dabei, wie sie die Tasse in ihren Händen drehte und etwas in ihm wollte nach ihr greifen, wollte ihre Hand in seine nehmen, damit sie nicht ging - aber das war nicht sie, nach der er greifen wollte. Es war nicht die gleiche Velma. Nein, diese Velma gab es nicht.
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War es Mut, dass er nun schwer schluckend doch wieder zum Reden ansetzte? Sich über seine Scham hinwegzusetzen versuchte, auch wenn seine freie Hand fahrig über die Hitze, die ihm den Hals hinauf stieg, fuhr, sich Halt suchend in den feinen Haaren in seinem Nacken verirrte, an jenen zog, bis die Welle aus Schwindel über ihn hinweg getrieben war.
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War es der Tee, dessen Dampf ihm nun in die Nase stieg? Die seichten Töne eines Plattenspielers, die aus dem hinteren Bereich der Bar zu ihnen nach vorne drangen? Das Klimpern von Tassen. Rascheln von Zeitungen, die auseinander gefaltet wurden. Die ersten Tische, die zur Seite geschoben, deren Stühle aufeinander gestapelt wurden. Das alles war so alltäglich, so banal - und doch hätte es ihm nicht verkehrte vorkommen können, hier zu sitzen und einen Löffel Honig in seinen Tee zu rühren.
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Denn ihr hatte er nichts von seinem Leben vor dem Krieg erzählt. Sie hatte nie einen anderen Mann kennenlernen dürfen, als jenen, der sie aus Theodores Herzen gestohlen und für sich beansprucht hatte
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Vielmehr klammerten sie sich in dieser Nervosität an die Erinnerungen, die sie miteinander teilten, dieses kleine Stückchen Vertrautheit, welches sie mit dem des jeweils anderen abzugleichen versuchten, als würden sie Karten oder Fotografien miteinander vergleichen.
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Es war ihm ein Rätsel, wie er hier sein, mit ihr sprechen konnte, wach, und sich zugleich fühlen konnte, als würde ein Bruchteil von ihm noch immer in einer vollkommen anderen Welt schlummern.
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Er wusste, dass es geschehen war, und trotzdem schmeckten seine Worte nach Lügen, als hätte er sich diese Geschichte soeben erst ausgedacht. Die Vertrautheit in seiner Stimme fühlte sich wie imitiert an, denn er konnte sie nicht spüren, nicht in seinem Herzen, als wäre dort immerzu eine dünne Barriere, welche er nicht durchbrochen bekam. Ein milchiger Schleier, dünn wie Schlaf, den er sich nicht gänzlich aus den Knochen schütteln konnte.
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Aber Oswin Cresswell war kein guter Mann, er war längst zu einem Feigling verkommen, ein Feigling und ein Dieb und ein Lügner, wenn er behauptet hätte, er hätte alles dafür gegeben, Theodore zu Velma zurückzubringen. Alles, nur nicht sein eigenes, erstohlenes Überleben.
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Der Name des Mannes, der doch an seiner Stelle hätte hier sein sollen, war ihm längst in die Innenseiten der Wangen eingraviert und nur für den Bruchteil eines Atemzuges wollte Oswin ihr alles offenbaren, ihr die Gänze seiner Schuld vor Augen führen, die Anmaßung, mit welcher er sich ihrer Briefe und der Liebe, welche Theodore für sie empfand, bemächtigt hatte.
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Seine Finger, nun in den Manteltaschen vergraben, zuckten. Dort wo sonst nichts als Taubheit war, breitete sich ein heißes Kribbeln aus, als hätte er die Fingerspitzen für einen Moment in die Sonne getunkt, und er hasste es, er hasste alles daran, hasste es, wie es ihn an diesen Moment fesselte, ihn daran erinnerte, dass er hier war, kein Gott, aber auch kein Überlebender, kein Toter, nichts von alledem, sondern etwas dazwischen, etwas dass sich nicht greifen ließ, nicht von ihm. Seine Hände blieben leer. Das einzige, was sich in ihnen finden ließ, waren tiefe Schwielen, die seine Lebenslinie durchbrachen.
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Nein, sie waren keine Götter; hätten es nie werden können, denn Gott war es, der sie verschlungen hatte, Gott, der sie in diesen Abgrund gespuckt hatte, Gott, der sie alle verraten hatte.
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Aber sie waren Piloten gewesen - sie hatten sich in Arroganz und dem Irrglauben, ihnen läge die Welt zu Füßen, gekleidet, um zu überspielen, dass die meisten von ihnen bereits tot waren.
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Wie selbstverständlich er sich darin verlor, als wäre Oswin Cresswell nie zu etwas anderem geschaffen worden, als schlichtweg zu zählen. Er zählte, was er zu greifen bekam, alles, was ihm in den Taschen lag, und alles, worauf er Acht geben musste. Atemzüge. Fallschirme. Das Ticken einer alten Uhr. Sekunden, bis es endlich wieder Boden unter seinen Füßen war und er sich das Blut von den Händen waschen konnte.
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Vielleicht verbarg seine Schuld sich irgendwo zwischen den zerfledderten Seiten von Moby Dick. In der dünnen, zittrigen Schrift an den Seiten, von welcher Oswin wusste, dass es seine war, aber die er dennoch kaum lesen konnte, als würde sie eigentlich einem anderen gehören - fremd, so wie sich auch seine Hände fremd anfühlten.
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Wo war diese Verantwortung in den Jahren gewesen, in denen er so etliche Stunden zum Briefeschreiben zur Verfügung gehabt hatte, aber nicht mit einem einzigen Wort die Schuld zum Ausdruck hatte bringen können, die ihre Seile immer fester um ihn geschnürt hatte, auf dass er ihr nie wieder entkommen können würde? Wo war sie jetzt?
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Er wusste es, denn die Frage lag ihm wie zu heiße Suppe im Mund, aber auch sie konnte er nicht aussprechen. Selbst wenn es nichts gab, was er lieber wollte, als zu wissen, wie man nach all dem weiter machte, ja, regelrecht wieder lernte, Mensch zu sein.
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Er wusste, welche Worte Theodore ihr in seinen letzten Augenblicken gewidmet hatte und auch diese hatte er an sich genommen, als müsste er es sein, der sie auf seinem Sterbebett von sich geben würde.
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Er trug die Erinnerungen an Velma in sich, als wären es seine eigenen. Ihre Briefe waren längst mit so vielen seiner Fingerabdrücke übersät, als wären es seine Hände, in welche sie gehörten.
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Ein erster Funken der Kontrolle, der ihm entwich. Der Oswin begreifen ließ, wie viel sich eben doch verändert hatte, nicht nur er. Und es machte ihm Angst. Mehr Angst als tausende Meilen in der Luft es gemacht hatten, mehr als ein Regen aus Kugeln, die alle sein Tod hätten bedeuten sollen. Mehr Angst als die Winter in Deutschland, die sich bis in sein Herz gegraben und jenes noch immer nicht wieder verlassen hatten.
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Er wünschte sich, sein Bruder würde es ihrem Vater - vermeintlichen Vater - gleichtun und ihn noch vor der Tür verweisen, denn wer auch immer der Mann war, der vor wenigen Augenblicken noch unter Tränen auf Corvus’ Veranda zusammengebrochen war - mit Oswin hatte er nur noch wenig gemeinsam und niemand war sich dieser Tatsache so bewusst, wie er selbst es war.
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Er beneidete Theodore - weil er Velma hatte lieben dürfen, aber noch mehr als das beneidete er ihn dafür, dass er hatte sterben dürfen.
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Oswin spürte nichts, nichts außer der Fremde, die zurückgeblieben war, die sich seines eigenen Körpers bemächtigt hatte, die ihn führte, ziellos und doch immer wieder zu ihr, weil sie der einzige Anker war, der ihm geblieben war; ihr Anblick das einzige, was sich vertraut anfühlte, auch wenn diese Vertrautheit kaum mehr als eine Lüge war, in welche er sich gestürzt hatte; auch wenn er an ihr kaum weniger als an der Entfremdung seines eigenen Herzen ertrank.
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Es war ihm fremd, eine Stadt zu sehen, die unberührt vom Krieg geblieben war, die der Zerstörung hatte entfliehen können, eine Stadt, in welcher das Leben einfach weitergegangen war, während unter seinen Füßen die Hölle aufgebrochen, alles was er kannte im Blut ertrunken war.
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Die Haare unter seiner Mütze waren noch leicht feucht vom Duschen, sein Gesicht juckte von der frischen Rasur, aber Oswin konnte sich weder daran erinnern, geduscht und sich rasiert zu haben, noch daran, wie er hierher gekommen war, als hätte ein anderer diese Aufgaben für ihn übernommen und ihn hierher gebracht.
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Oswin Cresswell gehörte nicht mehr zu den Menschen, die sich von einem Geschehen ins nächste stürzten, und die gar nicht genug vom Leben bekommen konnten. Oswin Cresswell war tot und was von ihm übrig geblieben war, das war wie gelähmt von der Schuld. Unfähig sich zu bewegen, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als zu ertrinken.
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Aus dem jungen Mann, der wie viele blauäugige Piloten zu Beginn des Krieges eine verquere Vorfreude dafür besessen hatte, endlich das erste Mal in die Lüfte steigen und dem Feind entgegentreten zu dürfen, war ein Mann geworden, der sich bereits vor dem Gedanken sträubte, wieder in ein Flugzeug zu steigen, und der sich zugleich doch bewusst war, dass er zwischen die Wolken gehörte; dass er niemals Absolution erfahren würde, wenn er nicht endlich auf die Weise sterben würde, wie sein Schicksal es doch eigentlich für ihn vorhergesehen hatte.
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Viel zu lange betrachtete Oswin diese Hand einfach nur. Früher hätte er nicht gezögert, hätte vermutlich noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt, um dieses stumme Angebot anzunehmen. Nun fühlte es sich wie ermogelt an, als würde es eigentlich einem anderen zustehen.
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In seinem Hochmut hatte er den Himmel bezwingen wollen, aber er war genauso gefallen wie Ikarus und nun hatte man ihm seiner Flügel und die Hoffnung geraubt, denn selbst als seine Lunge sich endlich mit Luft zu füllen schien, die Tränen auf seinen Wangen versiegten und sein Blick auf die in Schwarz gehüllte Hand fiel, die Corvus ihm hinhielt, wusste er, dass diese Hand ihm heute genauso fremd war, wie seine eigene.
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