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Viel zu lange betrachtete Oswin diese Hand einfach nur. Früher hätte er nicht gezögert, hätte vermutlich noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt, um dieses stumme Angebot anzunehmen. Nun fühlte es sich wie ermogelt an, als würde es eigentlich einem anderen zustehen.
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In seinem Hochmut hatte er den Himmel bezwingen wollen, aber er war genauso gefallen wie Ikarus und nun hatte man ihm seiner Flügel und die Hoffnung geraubt, denn selbst als seine Lunge sich endlich mit Luft zu füllen schien, die Tränen auf seinen Wangen versiegten und sein Blick auf die in Schwarz gehüllte Hand fiel, die Corvus ihm hinhielt, wusste er, dass diese Hand ihm heute genauso fremd war, wie seine eigene.
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Wie konnte ein einziger Zeitpunkt nach Blut schmecken, sich wie Asche auf seine Lippen legen, sein Innerstes mit dem Druck einer Explosion umwühlen?
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Oh, ein verquerer Teil von ihm wünschte sich gar, sie würde ihn schlagen, würde ihm eine kräftige Ohrfeige verpassen, die ihn die Scham vergessen oder wieder geraderücken würde, was sich in seiner Seele verschoben hatte, wie ein Knochen, der nicht richtig zusammengewachsen war und den man erst wieder brechen musste, um ihn zurück in seinen Ursprungszustand zu versetzen.
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Er hatte sie mit Fingern, so lang wie die Federn einer Elster, gestohlen, hatte mit Theodores Briefen und Worten zu flicken versucht, was sich tiefschwarz durch seine Brust gefressen hatte, ihn ausgehöhlt und auf seiner Seele ein Brandmal hinterlassen hatte, dass er mit den erstohlenen Träumen vielleicht hatte übermalen können, aber dessen phantomartigen Schmerz er noch immer spürte, wann immer er versuchte, die Finger nach dem auszustrecken, was einst gewesen war.
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Er zerfraß, was Oswin über die Jahre so kostbar in dem kläglichen Versuch es zu schützen in sich vergraben hatte, machte aus Erinnerungen von Bomben zugrunde gerichtete Ruinen, zerschmetterte sie mit einer Wucht, wie sie doch nur in der Faust eines Gottes hätte zu finden sein sollen.
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Wie bitter das Wissen, dass es anders hätte sein können, wenn er ein anderer Mann gewesen wäre. Aber er hatte nur Theodores Briefe an sich genommen, nicht seine Existenz
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Diese Art von Stolz war es, in welcher er sich gegen ihre kühlenden Hände sträubte, und sie floss wie Gift in seinem Blut, riss ihm mit blutdürstigen Krallen die Kehle auf, ließ jeden Atemzug wie ein ihm verwehrtes Ende schmecken.
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Hätte er sie nie im Green Husk aufgesucht, hätte er nicht mit ansehen müssen, wie seine Illusion von ihr Risse bekam, ihre Ecken und Kanten zu bröckeln begannen.
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Viel zu oft waren es nur Erinnerungen gewesen, mit welchen Oswin seinen Hunger gestillt hatte, an Butterscotch Toffees, die er sich mit Corvus teilte, aber selbst der grausige Eintopf des Kindermädchens war plötzlich zu etwas begehrenswertem geworden, als würde er einem Festmahl gleichkommen.
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Jahrelang hatten ihn die Gedanken an seine Heimat am Leben gehalten. Fünf Jahre hatte er nur in dem Wunsch überstanden, nachhause zurückzukehren, noch einmal das Zimmer betreten zu dürfen, welches er sich doch den Großteil seiner Kindheit mit seinem Bruder geteilt hatte.
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Er sah sie, so wie er sie schon tausende Male gesehen hatte: zwischen hunderten Baracken stehend, das gelbe Sommerkleid im verqueren Kontrast zum Schlamm zu ihren Füßen oder selbst vom Schnee und der Winterkälte vollkommen unbeirrt. Er sah sie vor dem Schlafen über ihn wachend, als könnte sie alleine fernhalten, was auch immer auf ihn zukommen würde, ob Traum oder Realität.
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Oswin hatte dem Green Husk den Rücken gekehrt, als wäre es ein weiteres Schlachtfeld, auf welches er nie zurückzukehren gedachte, und das Gewitter hatte auf ihn niedergeschlagen, als würde es ihm dabei helfen wollen, jede Erinnerung an die vergangenen Minuten in der Gartenstube zu vertreiben.
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Fern ab der Heimat, in der Kälte der Kriegswinter, war es leicht gewesen, aus Velma Lamb eine Illusion zu schaffen, die ihm vertraut war und Halt schenkte, wo seine Finger sonst nur starr vor Kälte ins Nichts griffen, doch eine Illusion war nur so lange glaubhaft, wie die Realität unerreichbar war.
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Er wusste es nicht mehr, er hatte es urplötzlich vergessen - doch der nächste Atemzug legte sich wie Feuer in seine Kehle und alles was ihm entkam war ein verstörendes Röcheln. Da war kein Blut mehr, was er schmeckte, nur noch Verbranntes, ächzende Flammen, die sich durch sein Fleisch gruben, es knistern ließen wie frisches Holz in einem Kamin.
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Der Himmel trug ihn wie auf goldenen, unnachgiebigen Händen, war weiches Blau, welches ihn umhüllte, eine warme Decke, Geborgenheit in einer schieren Unendlichkeit.
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”Miss Lamb”, Velma, hätte er fast gesagt, Velma, Velma, Velma, dieser Name, der ihm in einer gestohlenen Vertrautheit auf der Zunge lag. Es stand ihm nicht zu, sie so zu nennen, geschweige denn im Geheimen ihren Namen auszusprechen, als hätte sie jenen nur für ihn unter jeden ihrer Briefe geschrieben.
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Aber diese Stimme war nicht echt; sie hatte nichts gemeinsam, mit der rauen Realität, gegen welche Velma ihn prallen ließ, die mehr Kreidefelsengestein war, als kühlendes Wasser.
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Er fühlte sich wie ausgehöhlt, wie ein ungebetener Gast in diesem Körper, der seine Narben trug und ihm zugleich doch seltsam fremd war. Als wäre er selbst auch nur ein Name, der in ihm sein Unwesen trieb.
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Vielleicht hatte er deshalb jede Zeile, die er angefangen hatte, auf Papier zu bringen, wieder verworfen, weil er gewusst hatte, dass Corvus ihm ein ”mir geht es super, die Stahlzäune sind wirklich romantisch und die Läuse fast schon sympathisch” niemals abkaufen würde, aber es ihm zugleich an der Fähigkeit gefehlt hatte, die Wahrheit auch nur im Ansatz mit seinen Worten zu greifen zu bekommen.
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Die Velma in seinem Kopf kannte sie auch, wusste von jeder Narbe, jeder noch so winzigen Muskelzerrung, aber diese Velma war nicht echt.
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Es waren zweiunddreißig Steine die ihn von seinem Bruder trennten. Fünf, vielleicht auch sechs große Schritte. Er könnte es in zwei Atemzügen bis zur Veranda schaffen, drei, wenn er die Stufen (vier) bis zur Tür mitzählte. Mit dem vierten Atemzug könnte seine Faust bereits gegen das schwere Holz klopfen und mit dem fünften würde er seinem Bruder nach sieben Jahren das erste Mal wieder ins Gesicht blicken.
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