Alle Inplayzitate
![]()
Seine Frustration hatte sie damals nicht unbedingt als solche erkannt, aber nun hatte sie das Gefühl, eine einfache, leere Bleistiftzeichnung langsam mit Farbe zu befüllen, langsam mehr als nur Schemen zu erkennen.
![]()
Aber konnte sie wenig von jemandem halten, der von diesem Tanzclub sprach wie von einer großen Liebe in seinem Leben? Der die gleiche Straße entlang gelaufen war, lange bevor er Soldat gewesen war, und der die gleichen Stufen wie sie erklommen hatte, hinauf in die beengte Wohnung der Fosters, in der es immer nach Holzpolitur und Suppe gerochen hatte? Sie konnte der Erinnerung nicht böse sein, und wenn sie der Erinnerung nicht böse war, wurde es auch plötzlich schwierig, ihm im Hier und Jetzt mit dem gleichen trotzigen, kalten Zorn wie zuvor zu begegnen.
![]()
Fast sollte man meinen, dass sie Oswin Cresswell mit vorsichtiger Neugierde betrachtete. Nicht länger nur aus dem Augenwinkel oder wie, als würde sie ihn durch einen Spalt im Vorhang mustern, sondern so normal, wie sie vielleicht Cassius angesehen hätte. Nur ohne das stillschweigende Verständnis, denn dafür kannte sie Oswin Cresswell zu wenig, traute ihm längst nicht so über den Weg wie dem besten Freund ihres Bruders, der durch seine unaufdringliche, aber auch ähnlich verschlossene Art ihr Vertrauen gewonnen hatte. Stattdessen war Oswin Cresswell anzusehen, wie einen unbekannten Wald zu betreten; sie wollte davor zurückscheuen, aber da war sie schon mittendrin.
![]()
Ebenso selten, wie Gemeinsamkeiten zu finden, kam es auch seit einiger Zeit nicht mehr vor, dass Velma so bereitwillig von sich selbst erzählte. Wenn sie mehr als nur einen Schluck von der Russischen Schokolade genommen hätte, wäre dieser Umstand vielleicht dem ungewohnten Schnaps zuzuschreiben gewesen, aber so konnte Velma sich nicht auf solch einer Banalität ausruhen. Stattdessen, und das war viel erschreckender, folgte sie lediglich dem Verlauf des Gespräches, wenn sie nicht sogar von ihm gezogen wurde, sich nur halb dieses Drängens bewusst, das selbst die schwermütigeren Überlegungen vor ihren eigenen Augen versteckte.
![]()
Es war nicht länger unmöglich, sich vorzustellen, dass ihre Wege sich zuvor bereits gekreuzt hatten, ohne dass sie einander einen zweiten Blick geschenkt hatten. Wenn er mit David zur Schule gegangen war, dann vielleicht auch mit Cassius. Wenn er Cassius kannte, dann vielleicht auch ihren Bruder Arvin - kehrte er deshalb immer wieder ins Green Husk zurück? Ging es im Endeffekt gar nicht um sie, sondern war ihm die Teestube lediglich vertraut, so vertraut wie die Person, an die sie ihn erinnerte?
![]()
Velma versuchte sich vorzustellen, wie dieser Mann tanzte; es war nicht schwer, ihn sich auf diese Art vorzustellen, und sie neidete es ihm nicht, auch wenn sie versuchte, sich dagegen zu wappnen. Wie eben auch gegen sein natürliches Selbstbewusstsein, die laissez-faire Attitüde, die von der Art unterstrichen wurde, wie er seine Zigarette rauchte oder über eine alte Freundschaft sprach. Sie versuchte ihn zu analysieren, ohne ihm näher zu kommen, ohne das Fenster zu öffnen; das war Velma, wie sie leibte und lebte.
![]()
Vielmehr ließ sie ihren Blick nun über die Tische wandern, den gebohnerten Boden, der tatsächlich Spuren im Holz aufwies, wie von vielen Schuhsohlen, von Hacken, die mit der Zeit dem Holz seine Frische genommen hatten. Sie sah es vor dem eigenen Auge - an die Seite geschobene Tische, tanzende Paare, schwungvolle Musik. Sie konnte es sich ausmalen, wie eine Szene aus einem Buch, die sie tausendmal gelesen aber niemals selbst erlebt hatte.
![]()
In ihrer Kehle blubberte ein vorsichtiges Lachen, aber es kam nicht ganz heraus, ging auf halbem Weg der Übersetzung verloren, wie als würde es mit Sprachlosigkeit geschlagen werden.
![]()
Sie wartete die ganze Zeit darauf, dass er dieses Bild zerstörte. Oder darauf, dass Theodore durch es hindurch spazierte und das Vermissen in ihr schmerzen ließ, heiß und heftig, wie als hätte man ein Brandeisen auf die niemals heilende Wunde ihrer ersten Verliebtheit gelegt. Aber Theodore blieb still. Velma betrachtete erst das Draußen, dann Oswin Cresswells Spiegelung in dem Fenster, das Draußen und Drinnen ebenso sehr miteinander verband wie ihre und seine Erinnerung.
![]()
Wie zwei Sammler, verglichen sie ihre Erinnerungen vom Fensterausschnitt miteinander, bis sich die Bilder wie zwei Negative aus unterschiedlichen Zeiten übereinander legten und etwas vollkommen Neues ergaben. Eine Art kurioses Mischbild, in dem sich Velmas Gedanken verlieren wollten.
![]()
Als Oswin Cresswell ihr die Jacke als Schutz über den Kopf hielt, war sie sowohl erstaunt als auch dass sie es wie selbstverständlich annahm. Es ließ sich nicht leugnen, dass selbst Velma, die die Existenz einer ganzen Welt für sich behalten würde, sich der Fürsorge empfänglich zeigte. Sie sprach weder ihm noch sich selbst das recht ab, dass sich dieser altbekannte, vertraute Moment abspielte, wie er sich zwischen Klassenkameraden oder Kollegen oder auch Geliebten hätte abspielen können. Nur kurz zog sich Velmas Herz beim letzten zusammen - eine verwirrte, rasche Rührung. Dann ließ sie sich von Oswin Cresswell einladen, nickte lediglich verhalten.
![]()
Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Hilflos wie vor der Brandung, so stand sie Oswin Cresswell gegenüber. An wen auch immer sie ihn erinnerte, sie war sich sicher, dass es keine gute Sache war. Dass es schmerzte, wie sein Anblick auch sie schmerzte - wobei sie langsam feststellte, dass es leichter war, ihm ins Gesicht zu sehen, als ihn aus dem Augenwinkel zu betrachten oder mit entspannten Augen, wenn die Unschärfe das Kommando übernahm. Denn in letzterem lauerte stets Theodore wie ein Phantom, das von jeder Silhouette Besitz ergriff.
![]()
Weil er sie mit jemandem verglich, den er offensichtlich vermisste - ein Leiden, das sie im Grunde nachvollziehen konnte und das sie doch nicht mit der Welt teilen wollte. Sie wollte das Gefühl für sich; sie wollte es nicht in Fremden suchen oder auch nur zufällig finden. Sie wollte nichts mit Oswin Cresswell gemeinsam haben, nichts mit einem Soldaten, einem Piloten, der überlebt hatte, während ihr Verlobter gestorben war. Sie wollte ihm fremd bleiben, aber er hatte mit seinen Worten eine Distanz überwunden und konfrontierte sie nun mit ihrer eigenen Lächerlichkeit.
![]()
Sie starrte Mister Cresswell wie betäubt an, doch erst mit der Zeit tropfte Zwiespalt in ihre Mimik. Skepsis hatte die Eigenschaft, selbst dem kindlichsten Erstaunen die Hände um den Hals zu legen, es aus dem Körper zu pressen. Mit der Skepsis kam auch die Scham.
![]()
Ihr Kinn zuckte, auf ihrem Gesicht breitete sich ein feiner Film der Benommenheit aus, während ihre Iris sichtbar wurde - stürmisch und tief, wie das Wasser nah an der Küste, an der sie aufgewachsen war.
![]()
Um nicht in einem Imperium der Ungewissheit verweilen zu müssen, war sie es, die mit ihren Worten eine Tür öffnete. Ebenso barsch, wie sie einem ungebetenen Gast begegnet wäre - aber sie riss sie dennoch auf, ließ sich von dem kühlen, hereinplatzenden Wind das Gesicht röten. In keinster Weise war Velma furchtlos, auch wenn ihre sonst so ruhige, gediegene Art diesen Eindruck erwecken konnte. Im Inneren barg sie eine unerträgliche Verunsicherung, wie einen Strudel, der sie gnadenlos in die Tiefe zöge, würde sie nicht konstant um ihr Leben strampeln. Die Wahrheit war, dass sie immer schwächer wurde aber nicht genug Atem besaß, um ihre Stimme zu benutzen, um nach Hilfe zu suchen.
![]()
Mit der einzigen Ausnahme, dass Oswin Cresswell bereits mit seinem Verhalten erfolgreiche Risse in Velmas Fassade gerissen hatte. Er verstand sie zu erzürnen und ins Schwanken zu bringen, wie als würde er niemals mit einer anderen Intention in die Teestube ihrer Familie kommen, als um sie gegen sich aufzuwiegeln.
![]()
”Probably because you never actually become a god.” Denn Götter starben nicht, oder kamen versehrt zurück zu den Lebenden. Wie lächerlich es ihr erschien, dass sich die Piloten im Himmel tatsächlich wie jene fühlten. Zugleich wurden sie doch auch genau wie solche gefeiert; Helden des Himmels, Prinzen der Wolken.
![]()
Was waren Helden wert, wenn sie nur noch in Form von Medaillen zurückkehrten? Nicht einmal jene würde sie jemals in den Händen halten. Velma fühlte, wie auch das ihre Erinnerungen an Theodore überschattete, sie tiefer und tiefer in eine Unterströmung ziehen wollte.
![]()
Es kam Velma einem Akt der Selbstzerstörung gleich, sich mit Mister Cresswell auseinanderzusetzen; sie wollte ihn dessen beschuldigen, wollte ihn zur Verantwortung dafür ziehen, dass er die Erinnerung an Theo in ihr hervorrief - aber dafür hätte sie ihm, oder auch nur irgendjemandem gegenüber, zugeben müssen, was Theodore ihr bedeutet hatte. Wie sehr sie ihn vermisste. Für wie zerstört sie ihr Leben tatsächlich hielt, seit seine Rückkehr unmöglich gemacht worden war.
![]()
Ihre Routine war ihre Rüstung; deswegen bevorzugte sie die Arbeit im Green Husk, denn jene war ihr vertraut. Sie musste keine Wagnisse eingehen, sondern durfte sich der gleichförmigen Arbeit widmen, die sie ihr Leben lang gekannt hatte.
![]()
Wie konnte es sein, dass Theodore für sie noch immer die ganze Taschendimension belebte? Immer, wenn sie dachte, sie hätte sich weit genug gelöst, um ihr Leben weiterleben zu können, erinnerten sie kleine Ecken, die sie gemeinsam erkundet hatten, ans Gegenteil. Dann war sie sich bewusst, wie sie versuchte um ein riesiges Loch in ihrem Boden herumzuwachsen. Wie bemüht sie war, einen Garten auf einem sumpfigen Boden anzulegen!
![]()
Im Klassenzimmer. In der Bahn. Dann an der Bahnstation. Jedes Gesicht war das seine, selbst über Oswin Cresswell stülpte sich Theodore, sodass es sie immense Kraft kostete, sich nicht in seine Arme zu werfen. Sie kannte das schon, und doch überfiel es sie immer wie ein Fieber, das Vermissen. Wie ein Albtraum, der sie auf Schritt und Tritt verfolgte, selbst wenn doch eigentlich nichts passierte.
![]()
Mit einem Mal war Theodore überall. Als hätte er sich mit den Armen gerade noch auf den Sitz vor ihr gestützt und ihr sein sonnigstes Lächeln geschenkt - oh, wie er immer sie angeschaut hatte, selbst im Unterricht hatte er, wenn alle lachten, immer zuerst sie angesehen. Als würde er sie als Stimmungsbarometer benutzen. Nein, als würde er sichergehen wollen, dass sie auch lachte, dass es ihr gut ging.
![]()
”Please, I need to get out, I can’t-“ Keuchend stieß Velma Oswin in die Seite, drängte sich an ihm vorüber und, sobald die Bahn hielt, stürzte sie auch schon aus der Tür. An die frische, kalte Luft; der Winter packte ihre Lunge und drückte die Flügel zusammen. Erst als sie sich überbeugte und schwer atmend versuchte, ihren Puls zu kontrollieren, wurde ihr bewusst, dass sie noch immer Moby Dick in der einen, ihre Handschuhe in der anderen Hand hielt.
![]()
Die Bahn fuhr in die Glimmebauerstraße ein; hinter schicken Fachwerkhäusern verbargen sich schmale Pfade, die zum Bade- und Angelsee führten. Sie und Theo waren oft dorthin spaziert oder mit dem Rad gefahren; nach dem Baden hatten sie einmal in einem winzigen Restaurant gegessen; Heilbutt in Sahne und gebutterte Artischocken, herzhafte kleine Törtchen mit Benédictine Likör, den sie kichernd und einander verschwörerisch mit den Ellbögen anstoßend, getrunken hatten. Wangen wie im Fieber, eine Verliebtheit in der Luft, die den Geruch frischer Wäsche, nasser Haare, von Sonnenmilch mit sich trug.
![]()
Wenn sie Oswin Cresswell hingegen ansah, erinnerte sie sich daran, dass sie Theodore weder davon hatte abhalten können, die Taschendimension zu verlassen und Pilot in der Royal Airforce zu werden, noch davor, zu sterben. Er war gestorben ohne auch nur ein einziges Mal von ihrer Maulbeermarmelade zu probieren.
![]()
Plötzlich wünschte sie sich, sie wäre heute einfach daheim geblieben. Sie wünschte sich, sie hätte dem Gewicht auf ihrer Brust nachgegeben und wäre im Bett liegen geblieben, die Augen blicklos an die Decke starrend. Aber der Winter gaukelte ihr stets vor, sicher zu sein. Im Winter fühlte sie sich wie gestärkt von den zimtigen, reichen Aromen ihrer Umgebung; von Glühwein und Apfeltee, von frisch gebackenem Brot mit im Sommer eingelegten Maulbeeren. Sie entsann sich der eigenen Hände, die die Früchte eingelegt hatten, und dachte sich, wie viel Gutes sie für sich und ihre Lieben getan hatte.
![]()
”I agree”, erwiderte Velma nüchtern, ”You shouldn’t have.” Dann richtete sie den Blick wieder hinaus aus dem Fenster, als wäre das Thema für sie abgeschlossen. Doch das Einzige, was Velma Lovage Lamb tat, war, ihrer Familie alle Ehre damit zu machen, dass sie beschloss, über alles zu schweigen.
![]()
Als er sich entschuldigte, versuchte sie jedoch seine Worte aufzunehmen. Langsam betrachtete sie ihn, prüfte mit dem Blick jede Zuckung in seinem Gesicht nach Aufrichtigkeit. Verworrene Emotionen zeichneten sich auf diesem hageren Gesicht ab; er kämpfte sich durch seine Entschuldigung hindurch wie ein Fliehender durch Wald und Wetter.
|