Alle Inplayzitate
Nicolò war gebrandmarkt, konnte weder vor noch zurück. Und doch war er hierher zurückgekehrt – in das Haus seiner Eltern, wie als würde er es darauf anlegen, sich das Backsteingemäuer mit ihrem Zorn zu teilen. Als würde er sich damit selbst verfluchen, sich bestrafen wollen.
Wenn Nicolò den Raum betrat, sah Arcturus nicht auf. Sie grüßten einander nicht, außer man wurde von anderen auf die Gegenwart des anderen hingewiesen. Man tauschte oberflächlich Worte aus, wobei das gespielte Desinteresse wie ein Wettbewerb zwischen ihnen erschien. Manchmal hatten sie dieses Distanzspiel so weit getrieben, dass es unterschwellige Zweifel zwischen sie gestreut hatte – aber niemals für lang, niemals auf Dauer.
Im Schrank seines alten Kinderzimmers hingen noch immer ein paar seiner Sachen, doch es war mehr als zwanzig Jahre her, dass er diesen Ort sein Zuhause genannt hatte. Was er dort fand, fühlte sich wie aus einem anderen Leben an; als würde es einem Fremden gehören.
In der Hinsicht war er Hedonist; er war so geduldig, dass jedes Aufeinandertreffen mit Chiyeol fast schon friedlich wirkte, wie als hätten sie ihre Waffen und Rachegelüste abgelegt. Es war ein beunruhigender Frieden, die Ruhe vor einem Sturm, der Jahrzehnte unter der Oberfläche brodelte und brodelte.
„Wenn du Zeit mit deiner Tante und deiner Direktorin verbringen willst, dann lade ich dich das nächste Mal gerne dazu ein, aber wie gesagt – es ist weder geheim noch ereignisreich.“ Polina und ihre Anwesenheit wäre sicherlich eine Herausforderung um Irene dezenter auf die Nerven gehen zu können. Oder Avancen machen konnte. Nein, so was klappte am besten ohne Zuschauer. Sie wollte ihre Nichte nicht noch mehr traumatisieren.
Seine erbärmlichen Versuche der Telepathie – nenn meinen Namen nicht, Alejandro, nenn meinen Namen nicht, Alejandro – gingen selbstverständlich daneben. Verdammte Scheiße aber auch.
Du kleiner Bastard.
Großmütig verzichtete Alejandro auf den Hinweis, dass nichts an ihm klein war.
”Wenn es um meine großzügigen Portionen beim Mittagstisch geht … Ich kann nichts dafür, dass die Küche so famose Gerichte zustande bringt! Da kann mir doch niemand Maßlosigkeit vorwerfen”
”Du kleiner Bastard”, kam es ihm über die Lippen, jedoch ohne die Härte einer Beleidigung, vielmehr spielerisch, als würde es sich dabei um etwas fast schon Liebevolles handeln.
Das Hier und Jetzt, die Realität - wie unerträglich diese für ihn war, wie sehr er daran zugrunde gehen konnte, hatte er zuletzt in seiner Kindheit wahrhaftig zu spüren bekommen, an dem Tag, an welchem er hatte realisieren müssen, auf sich alleine gestellt zu sein, und so war es seit jeher allem voran seine eigene Wirklichkeit, in welcher er lebte.
Sie gaben sich nichts, versuchten sich aber alles zu nehmen. Immer und immer wieder, wobei ihr Gespräch wie eh und je auf andere vermutlich harmlos wirkte, wie nichts weiter als ein stichelnder Austausch zwischen Rivalen. Sie selbst jedoch sollten es besser wissen; hinter jedem Wort lag eine Erinnerung, hinter jedem Spruch eine Offenbarung wie auch Verschleierung.
”Mir scheint, du willst unbedingt, dass ich dich bemerke. Das hat dir doch immer schon gefallen, nicht wahr? Du wolltest immer von mir bemerkt werden, immer meine Aufmerksamkeit für dich haben, immer in meiner Nähe sein. Daran hat sich nicht so viel verändert, wie du vielleicht glaubst.”
”Du würdest meine Sammlung zur Geschmacklosigkeit verdammen.” Chiyeol Byun passte nicht in sein Sortiment; nicht als Gegenstand, nicht als Anhängsel, nicht als Angestellter, Untergebener oder, Gott bewahre, als Freund. Nur die Rolle des Feindes, dem man unweigerlich zu viel Bedeutung beimaß, erfüllte der Mann in dem chaotischen Aufzug mit dem zerzausten Haar und dem Schlafzimmerblick bis zur Perfektion.
So leicht es Alejandro im Normalfall auch fiel, herauszufinden, wonach sich jemand sehnte, waren Chiyeols Wünsche und Träume ihm doch weiterhin ein Rätsel. Der Weg zu ihnen war ihm versperrt; es war eine Grenze, die er selbst gezogen hatte und nicht zu überschreiten wagte. In Chiyeols Traumwelt einzudringen, war ihm schlichtweg unmöglich.
Hätte man ihn gefragt, hätte er zu seiner Verteidigung wohl etwas darüber geschwafelt, dass auch in der Wahl des gemusterten Wollpullovers mit dem zerknitterten Hemd und dem mit Farbflecken und Flicken versehenen Mantels eine gewisse Kunst lag, und die Tatsache, dass seine Haare augenscheinlich noch nie mit einem Kamm Bekanntschaft geschlossen hatten, ein Akt der Rebellion gegen das System war.
Natürlich hätte er Alejandro einfach hier und jetzt töten und es endlich hinter sich bringen können. Aber nach all dem Warten wollte und konnte Chiyeol sich nicht mit einem derartig schmucklosen Mord zufrieden geben.
Alejandro hingegen, der war wirklich frei. Vielleicht sollte er dem Syndikat doch eine Grußkarte mit einem netten Dank schicken, immerhin hatten sie dies erst möglich gemacht. Hätte das Syndikat ihn nicht verschmäht und Chiyeol ihn nicht verraten, wäre er jetzt auch nur ein Tier, das gelernt hatte, Fers zu laufen.
Ein Hund an der Leine des Syndikats, mehr war Chiyeol Byun nicht, selbst wenn er sich für einen Freigeist hielt. Seine Kunst, sein vermeintlicher Brotjob, war hingegen ein trübseliger Versuch, sich Freiheit zu erkaufen, die er nicht besaß.
Der eine badete in seiner eigenen Genüsslichkeit, während der andere unbewegt und aalglatt blieb, sich selbst wie auch alles um sich herum zu ernst nehmend, um Chiyeols Lächeln jemals mit einem eigenen zu bestätigen. Wenn Alejandro Zerrudo lächelte, dann aus Kalkulation – schleichend wie eine Schlange, die sich lautlos schlängelnd auf ihre Beute zubewegte.
Es war lange her, dass sie das gleiche Ziel vor Augen gehabt hatten, und dass der eine dieses Ziel erreicht hatte, der andere hingegen nicht. Und doch hatte Alejandro es nie überwunden, der andere in diesem Szenario gewesen zu sein. Er verübelte es Chiyeol noch immer, gewonnen zu haben – und wenn Alejandro eines war, dann nachtragend wie ein zorniger Gott.
Dies war kein Tag für einen Mord, der perfekt zu sein hatte, aber ein Tag, an welchem sich zwei Verräter nebeneinander setzen konnten, als wären sie lediglich ein paar gute Bekannte.
Auch jetzt noch suchte Aurora verzweifelt nach diesem Band, aber sie berührte es nicht mehr nur, sondern zerrte daran, zerrte und zerrte; und Gael? Er schien, wie auch für ihre Worte, taub für alles geworden zu sein, das ihn einst an Aurora verzückt hatte.
Manchmal machte ihr das Angst – nein, sie fürchtete nicht, dass er ihr physisch Gewalt antun könnte, aber sie fürchtete sehr wohl, dass er darüber fantasierte, wie ein Leben ohne sie aussehen würde. Immer dann, wenn sein Blick glasig wurde und er nicht länger zuhörte, das geistesabwesende Hmpf eines vielbeschäftigten Mannes auf den Lippen, wusste sie, dass er im Kopf ganz allein war und sie, Aurora Moreno, zur Irrelevanz verdammt hatte.
Wie falsch das war, wie sehr er sich doch eigentlich auch etwas anderes wünschte, dämmerte ihm auch dann nicht, als sich die ersten Tränen in Auroras Augen wiederfanden. War sie schon immer so dramatisch und Joaquin hatte sich all die Jahre nur von ihrer Schönheit blenden lassen?
Chiyeol war wie durch Papier blutende Tinte, die alle anderen geschriebenen Zeilen unleserlich machte.
Jeder Kuss und jeder Berührung war ein Gebet für sich, jeder Ton, jedes Wort heiliger als jede Schrift und jedes bisschen Dunkelheit ein Loblied an seinen persönlichen Abgott.
Fast ein wenig selbstlos zog sich Zenaida zurück, die Arme ausgestreckt, und stellte sich vor Mira Oswald und Aissata Gueye, die nach Maldwyn am gebrechlichsten aussahen. Sofia und Polina traute sie deutlich mehr zu, als den anderen Mädchen.
Die schottische Sirene, so wurde sie vor jedem Auftritt angepriesen, und Alejandro verstand vom ersten Augenblick an, warum. Es war nicht ihr Äußeres, war sie doch nicht halb so funkelnd und strahlen wie die Burlesque-Tänzerinnen, sondern von authentischer Komplexheit. Es wirkte nicht einmal, als würde sie eine Show abziehen, sondern als könnte sie gar nicht, als jedes ihrer Lieder aus sich herausbrechen zu lassen. Begleitet wurde sie spärlich, oft waren es ihre eigenen Hände, die über die Taste
Sie alle neigten wohl dazu, so zu tun, als wären sie unantastbar; es fühlte sich auch so an, in ihrem Alter berührte sie nichts, nicht dauerhaft, und zugleich schlug alles Wunden.
„Cillian Vaughn, er ist ein Idiot.“ Manchmal hatte er das Bedürfnis, ihm auf die Nase zu schlagen. Oder gegen eine Mülltonne zu werfen. Manchmal. Aber er hielt sich freundlicherweise zurück.
|