Alle Inplayzitate
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Er dachte an die vielen kleinen Dramen der Vergangenheit, die ihm heute beinahe lächerlich erschienen. Damals hatte er keine Ahnung gehabt, wie schwer das Gewicht der Welt auf einem lasten konnte, wie zermürbend die Verantwortung war, wenn sie nicht mehr nur aus guten Schulnoten oder pünktlichen Heimkehrzeiten bestand. Als Kind war sein größtes Problem vielleicht gewesen, ob Mutter ihn beim Naschen erwischen würde. Heute drohten Dinge in seinem Innersten zu zerbrechen, von denen er fürchtete, dass kein Frosch der Welt sie mehr kitten könnte.
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Seine eigenen Erinnerungen an den Raum, der für ihn vorgesehen war, fühlten sich jedoch brüchig an. Kein echtes Heimatgefühl hatte sich hier je verankert.
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Alles in der Haltung seiner Schwester wirkte sicher, bedacht, verlässlich. Er beneidete sie um diese Fähigkeit, so leise und doch kraftvoll durch alles hindurchzugehen. Natürlich wünschte er sich manchmal, sie würde sich mehr öffnen, ihre eigenen Gefühle lauter äußern, doch genau diese Stille, die sie umgab, war auch der Grund, warum er sich in ihrer Nähe immer ein kleines Stück sicherer fühlte. Als könne nichts vollständig aus dem Ruder laufen, solange sie da war.
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Diese Ruhe war ihr eigenes Terrain, eine Festung, die sie meisterhaft bewohnte, während er selbst sich schon seit Tagen wie ein Eindringling in den eigenen Gedanken fühlte.
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Velmas Hände bewegten sich mit einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit. Jede Scheibe Brot, die unter dem scharfen Schnitt des Messers in gleichmäßige Portionen zerfiel, wirkte wie ein eigener, in sich abgeschlossener Vorgang. Streichen, legen, ordnen — die Ruhe, die sie dabei ausstrahlte, schien ihn fast körperlich zu umhüllen.
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”Man muss dem Cassidy zumindest eines lassen-” und dabei streicht er sich demonstrativ über die Oberlippe ”- ‘nen schicken Bart hat er ja schon.”
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Stattdessen war ihr sogar, als würde ihr mit jedem Schritt leichter ums Herz werden, wie als entfernte sie sich an Cassius’ Arm gehend von einer zentnerschweren Version ihrerselbst; von einer mit seelischem Ballast am Meeresboden verankerten Velma Lamb; als würde sie aufsteigen wie eine Luftblase, so leicht und voller Auftrieb, dem Mondlicht entgegen.
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[...]und eigentlich hätten sie sich hier voneinander verabschiedet, wenn die Straßen nicht plötzlich in eigenartige Verstummung gefallen wären. Wie als würde für eine Sekunde kein Geräusch auf der Welt existieren. Und als sie doch wieder existierten, die Geräusche, wirkte das Dunkel ein wenig dunkler, die Schattentiefen tiefer.
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Das ganze Jahr lang hatte sie sich wie im Winterschlaf gefühlt; besonders der Frühling war ein Albtraum gewesen. Im Sommer kam die nächste Qual, bis auf einige helle Momente, in denen sie sich hatte ablenken können. Erst mit den kalten Monaten kehrte eine Ruhe in ihr ein, wie als würden Schnee und Eis auf den Straßen die hitzeerfüllten, flammenden Gefühle zum Gefrieren bringen - was besser war, als sie verarbeiten zu müssen, denn das wollte und wollte ihr nicht gelingen.
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Es war nicht länger nur sein Geheimnis, sondern ihr gemeinsames, schließlich war auch sie hier. Sie hatte gewusst, dass es etwas gab, das er bewusst vor ihr verbarg. Nicht, weil Nikolay sich verdächtig verhalten hatte, sondern weil jeder Mensch nun mal Geheimnisse mit sich trug. Und dass sie nun eher zufällig als bewusst eines von seinen aufgedeckt hatte, befriedigte Venus auf eine andere Art und Weise.
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Eliyas starrte ihn an. Als Maksim einen Schritt zu ihm machte, wandte sich Eliyas reflexartig halb ab. Blickte auf den Boden, dann ins Nichts, dann irgendwo in die Luft, bloß nicht in das Gesicht Maksims, das vom ersten Moment an verraten hatte, was er längst wusste: dieser Mann war sich seiner Schuld bewusst. Das war nicht das Gesicht eines Menschen ohne Absicht, ohne Intention.
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In den folgenden Stunden versuchte er mit aller Macht, ruhig zu bleiben. Er weinte nicht, er eskalierte nicht, er rauchte lediglich eine Zigarette nach der anderen, bis seine Kehle einer Wunde ähnelte. Immer wieder fuhr er sich mit den Händen durchs Haar. Am Ende stand es ihm wirr zu Berge. In seiner unverwüstlichen Einsamkeit hatte er mehr denn je das Gefühl, jeden Augenblick verrückt zu werden.
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In kerkerartige Stille war er zurückgekehrt. In eine Wohnung, die sich nicht länger wie ein Ort des Rückzugs anfühlte, sondern wie als wären die Wände mit Hohn gestrichen worden. Als hätte Maksim Fedorov ihre Farben der Lächerlichkeit preisgegeben, indem er die Tapete in langen Zungen abgezogen und die Möbel auf die Zungen gestellt hatte, bis er freimütig die Worte in Eliyas’ Mund hatte herumdrehen können.
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Es hätte auch sie entwurzeln und verunsichern können, aber es war erstaunlich, wie resilient sie geworden war; sie war viel stärker, als sie es vor dem Tag, an dem Theo sich freiwillig zum Militärsdienst gemeldet hatte, gewesen war; wenigstens eine gute Sache war daraus hervorgekommen: ihr Inneres lag nicht länger frei, sondern gut behütet hinter Kalk und Kruste.
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Er wusste, welche Worte Theodore ihr in seinen letzten Augenblicken gewidmet hatte und auch diese hatte er an sich genommen, als müsste er es sein, der sie auf seinem Sterbebett von sich geben würde.
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Er trug die Erinnerungen an Velma in sich, als wären es seine eigenen. Ihre Briefe waren längst mit so vielen seiner Fingerabdrücke übersät, als wären es seine Hände, in welche sie gehörten.
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Er starrte Arvin an, fragte sich noch, wie er nun doch die Kraft aufgebracht hatte, die schweren Lider zu öffnen, als sein Körper sich bereits in Bewegung setzte, die noch verbliebene Distanz zwischen ihnen zurücklegte und auf den des Lambs prallte wie ein Verdurstender, dem man gerade den helfenden Rettungsring entgegengeworfen hatte; und mindestens genauso sehr wie die Hoffnung auf Bergung aus diesen tosenden Wellen krallten sich seine Finger in die Schultern seines besten Freundes, als er ihn mit all seiner Kraft an sich drückte und den vertrauten Geruch einsog, von dem er überzeugt gewesen war, nie wieder Zeuge werden zu dürfen.
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Er wehrte sich gegen den Gedanken, schmerzte er doch zu sehr, doch wenn er ehrlich mit sich selbst war, dann hatte Arvin mit dem Auszug aus seinem Leben genau das mit sich genommen, was der Shepherd daran geschätzt hatte. Was er, genau genommen, überhaupt erst dort aufgebaut hatte. Als hätte er, nach Davins Tod, eine Saat in seinem Inneren fallen gelassen, die sich erst mit der Zeit in die Erde gegraben und dort langsam, aber stetig gewachsen war, die Farben zurück in sein Leben gebracht, seinen trüben Blick geschärft hatte für Kontraste und Schönheit, für Details und kleine Wunder.
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Der Shepherd sah all diese Veränderungen, spürte sie jedoch nicht. Er erkannte, dass der Winter Einzug hielt, doch anders als sonst sah er seine Schönheit nicht mehr und hielt auch keine Anteile an einem Aufkeimen seines Interesses dafür. Wo ihn an Schneeflocken die wundersame und gleichsam -schöne Struktur in den Bann gezogen hatte, das Wachsen der Eiskristalle bei stetig voranschreitendem Gefrieren des Wassers, sah er nun nicht mehr als genau das – gefrorenes Wasser, das vom Himmel fiel.
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Aurora Moreno besaß eine Maske, aber Abel Zapatka besaß unzählige Gesichter.
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Als er sie ansah, war ihr, als könne er jeden unter der Haut liegenden Nerv sehen; und das fehlende Lächeln, wenn auch die Mundwinkel vom Alter etwas verkrümmt waren, barg noch immer die gleiche, störrische Herablassung wie damals. Es war diese Herablassung gewesen, dieses Wissen seinerseits, in jedem Raum der intelligenteste Mensch zu sein, die sie unwiderstehlich angezogen hatte.
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Er nickte seinen Geschwistern zu und trat los, den Blick dabei kurz zu Hamlet senkend, der mit gesträubtem Stolz und meckerndem Unmut Velma folgte, wie ein bockiges Kind. Arvin sah zu seiner Schwester, hob eine Braue, dann folgte ein schmunzelndes Kopfschütteln. Typisch Hamlet.
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”Es wäre besser, wenn die Vergangenheit dort bleibt, wo sie ist. Wenn wir uns um eines bemühen sollten, dann darum. Wenn Nicolò Gimondi”, seine Stimme verdunkelte sich, als er seinen Namen in den Mund nahm wie eine dornige Rose, ”auch nur einen Hauch Vernunft in sich trägt, wird er nicht nach Stellans zurückkehren, sondern sich woanders sein Glück suchen.” Das Glück, das sie einst gemeinsam gesucht hatten, zu dritt, wie eine Familie, und das doch jetzt so fern wirkte, dass es nicht einmal als Spur einen Weg in Arcturus’ Worte schaffte.
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”Es wäre besser, wenn die Vergangenheit dort bleibt, wo sie ist. Wenn wir uns um eines bemühen sollten, dann darum. Wenn Nicolò Gimondi”, seine Stimme verdunkelte sich, als er seinen Namen in den Mund nahm wie eine dornige Rose, ”auch nur einen Hauch Vernunft in sich trägt, wird er nicht nach Stellans zurückkehren, sondern sich woanders sein Glück suchen.” Das Glück, das sie einst gemeinsam gesucht hatten, zu dritt, wie eine Familie, und das doch jetzt so fern wirkte, dass es nicht einmal als Spur einen Weg in Arcturus’ Worte schaffte.
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Selbst wenn er immer wieder Distanz suchte und seine innersten Gefühle und Gedanken vor ihr ebenso sehr verbarg wie vor seinen älteren Schwestern, hatte er nicht verlernt, ihre Stimmungen und die Schwankungen in ihrer Gesundheit zu lesen und sich um sie zu sorgen. Die Farbschattierungen ihres Denkens waren ihm so vertraut, dass es ein Leichtes für ihn wäre, sie auszunutzen, und doch stieß ihn kein Gedanke mehr ab als dieser.
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Arcturus, der immer etwas verkniffen dreinschaute, dessen Mimik sich jedoch entspannte, sobald sie allein waren und die Arbeit sie beide ermattet aber zufrieden genug zurückließ. Arcturus, der Tee für sie kochte, sodass sie für einen Moment Häuslichkeit schauspielerten; zwei Männer auf einer Bühne, zwei Männer im selbstgeschaffenen Theater. Kurzweilige Freiheit für zwei Hexer, die jene weder kannten noch ernsthaft verdienten.
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Natürlich war es das gleiche Haus, das sie schon viele Male betreten hatten und dessen Holzstufen noch genauso vertraut knarzten wie vor Jahren, wie als hätten sie sich ihre Namen eingeprägt und würden sie nun sehnsuchtsvoll rufen. Er schwieg in die Erinnerung hinein, wie Nicolò ihm einmal ein Buch an den Kopf geworfen hatte, während sie spielerisch, unernst miteinander gestritten hatten, nur um mit weit aufgerissenen Augen eine Entschuldigung zu stammeln. Seine Hände, die Arcturus’ Kopf abtasteten. Die Lippen, die sich auf seinen Scheitel drückten.
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”I have not been in the business of saving anyone for a long time, Nicolò”, erwiderte Arcturus ermüdet. Seine Augen mochten funkeln, in ihnen mochte noch ein schaler Kampfgeist brennen, aber den Rest seiner Mimik, seine Zunge, seine Sprache, auch seinen Körper erreichte dieser Kampfgeist nicht.
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Da war sie. Die Wahrheit, die immerzu in ihrem Kopf nistete, wie eine Taube, die ihr Nest auf einem der dunklen Balkone des Anwesens bauen wollte, ohne jemals aufzugeben. Juniper wollte hier weg, wollte nichts mehr mit all der Dunkelheit zu tun haben. Aber egal wie schnell sie lief, wie weit sie sich entfernte: etwas hielt sie fest, erdrückte sie.
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Da war keine Wärme in seinem Blick, kein Mitleid und vielleicht noch nicht einmal Hass - ja, das war das schlimmste für Nicoló. Dass er es noch nicht einmal schaffte, Juniper aus ganzem Herzen für das, was sie ihnen angetan hatte, zu hassen, weil er schon immer ein weiches Herz für das junge Mädchen besessen hatte, dass in ihrer Jugend doch ein ähnlicher Wirbelsturm wie er selbst gewesen war. Er hatte sie geliebt, als wäre sie seine eigene Schwester gewesen und er hätte ohne zu zögern sein Leben für sie gegeben - doch er hatte vergessen, welchen Namen sie trug und mit was für einer Bedeutung dieser einher ging.
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