Alle Inplayzitate
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Plötzlich wünschte sie sich, sie wäre heute einfach daheim geblieben. Sie wünschte sich, sie hätte dem Gewicht auf ihrer Brust nachgegeben und wäre im Bett liegen geblieben, die Augen blicklos an die Decke starrend. Aber der Winter gaukelte ihr stets vor, sicher zu sein. Im Winter fühlte sie sich wie gestärkt von den zimtigen, reichen Aromen ihrer Umgebung; von Glühwein und Apfeltee, von frisch gebackenem Brot mit im Sommer eingelegten Maulbeeren. Sie entsann sich der eigenen Hände, die die Früchte eingelegt hatten, und dachte sich, wie viel Gutes sie für sich und ihre Lieben getan hatte.
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”I agree”, erwiderte Velma nüchtern, ”You shouldn’t have.” Dann richtete sie den Blick wieder hinaus aus dem Fenster, als wäre das Thema für sie abgeschlossen. Doch das Einzige, was Velma Lovage Lamb tat, war, ihrer Familie alle Ehre damit zu machen, dass sie beschloss, über alles zu schweigen.
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Als er sich entschuldigte, versuchte sie jedoch seine Worte aufzunehmen. Langsam betrachtete sie ihn, prüfte mit dem Blick jede Zuckung in seinem Gesicht nach Aufrichtigkeit. Verworrene Emotionen zeichneten sich auf diesem hageren Gesicht ab; er kämpfte sich durch seine Entschuldigung hindurch wie ein Fliehender durch Wald und Wetter.
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Betont kühl, gar gleichgültig, ließ sie seine Anwesenheit über sich ergehen. Als wenn in ihrem Inneren kein Sturm wüten würde, der so grausam anzusehen war, dass nicht einmal Velma den Blickkontakt mit ihm aufzunehmen vermochte. Ihre Hände, sehr bleich und sehr rot an einigen Stellen, krampfte sie bei seinen Worten in ihre Handschuhe. Ihre Gliedmaßen zitterten; vor Kälte, vor Entrüstung, vor Hilflosigkeit. Wenigstens benutzte er nicht länger ihren Vornamen, so als wären sie einander Bekannte; aber selbst das weigerte sich Velma ihm positiv zuzuschreiben.
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Ihr Zorn hingegen, der sie erfüllte, als sie sich in der Wohnung eben dieses Mannes wiederfand und sich um ihn kümmerte, nur um von ihm verhöhnt zu werden, war das komplette Gegenteil davon. Er hatte sie belebt - und das machte sie Oswin Cresswell noch stärker zum Vorwurf. Wenn sie jemand aus ihrer unverwüstlichen Einsamkeit holte, dann sollte es ihre Familie sein, ihre Brüder, ihre Eltern, vielleicht sogar Lydia und Paula, aber sicherlich nicht der einstige Pilot, der wohl glaubte, sie schikanieren zu dürfen.
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Und er hatte ausgesehen, als würde er in ihrem Gesicht etwas suchen, das sie lange nicht mehr in sich trug - vielleicht eine Jugend, die sich mittlerweile wie weggewaschen fühlte. In dem Moment hatte sie sich uralt gefühlt, schal und abgenutzt.
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Es war seltsam. Ja, Heyne war schon immer ein zurückhaltender Mensch gewesen, jemand, der sich nicht gerne in die Karten schauen ließ und nicht wollte, dass andere wussten, was in ihm vorging — warum sonst sollte er seine Gedichte sonst noch immer unter dem Namen eines anderen veröffentlichen — aber Charlie war von dieser Regel bisher immer ausgenommen gewesen. Charlie war der eine Mensch in seiner Freundesgruppe gewesen, vor dem er sich nie hatte verstecken müssen, vor dem er sich nicht hatte verstecken wollen.
Aber jetzt? Jetzt stand Heyne in Charlies Küche und fürchtete, dass Charlie ihm einfach so die Freundschaft kündigen würde, wenn er erfahren würde, dass Heyne Knoblauch mehr ertrug, als dass er ihn mochte. ![]()
Er musste sich nicht vor Charlie verstecken. Charlie mochte ihn, weil er er selbst war, nicht obwohl er er selbst war. Ihre Freundschaft, die der Gruppe, war nicht dabei zu zerbrechen, weil Heyne zu viel von sich preisgegeben hatte, nicht weil er sich zu sicher gefühlt hatte ...
Oder? ![]()
Es ist keine Angst mehr, die seine Glieder zittern lässt, es ist Aufregung.
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Freddie hätte nie gedacht, dass sich heimlich durch die nächtlichen Straßen der Stadt zu schleichen, so gut anfühlen könnte. Normalerweise ist er laut und bunt und auffällig. Normalerweise genießt er es, unter bewundernden oder verwirrten Blicken zu baden, normalerweise liebt er es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In dieser Nacht entspricht nichts dem typischen Bild, das er sonst abgibt. Heute ist er nicht laut oder bunt oder auffällig. Heute ist er leise, versteckt sich in den Schatten, in der Unkenntlichkeit.
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Frédéric ist ein Risiko - nicht nur, weil er nicht zum engsten Kreis des Casinos gehört, sondern auch, weil seine Freunde ein Problem werden könnten, aber dass er hier ist, ohne sie, wirft in Ambróis die Frage auf, ob er sich nicht doch all die Jahre in dem Rousseau getäuscht hat. Vielleicht ist er es leid, sein Leben lang mit Eliyas um das gleiche Rampenlicht zu konkurrieren, und wenn nicht, dann wird Ambróis ihn schon auf diesen Geschmack bringen. Herzensgut, so kennt man Ambróis einfach.
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Er sucht nach einer neuen, noch kräftigeren Stimme, will mit jener nie wieder Gefahr laufen, in Vergessenheit zu geraten. Der Durst danach bindet ihn noch fester an das Spinnennetz als seine Überzeugung von schwarzer Magie.
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An seinen Namen soll man sich erinnern, anstatt Fragezeichen auf den Lippen zu tragen, in dem Versuch, ihn zu Lauten zu formen. Bereits in Adamas hat er es verstanden, einen Raum für sich einzunehmen, hat immer etwas lauter als die anderen gelacht und es sich nie nehmen lassen, mit seiner Stimme die Führung an sich zu nehmen, jedes Gespräch nach seinen Belieben formen zu wollen.
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Nichts sagen, bloß nicht auffallen, den Kopf gesenkt halten oder lächeln, zustimmend nicken, bloß nicht anecken; auf keinen Fall anecken. Es sind Worte, die Ambróis’ gesamte Kindheit begleitet haben, denn es ist Unscheinbarkeit, nach welcher seine Familie sich gesehnt hat, wenn nicht sogar Unsichtbarkeit.
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”I’m Freddie!” Mit dem schönsten, strahlendsten Lächeln, das er aufbringen kann, hält er dem Mann hinter dem Schreibtisch die Hand hin.
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Seit des Herbstfestes scheint sein Lachen immer viel zu laut, seine bunte Kleidung viel zu grell, sein Spaß fehl am Platz. Es ist, als hätte man Stellans den Atem geraubt, als hätte es ihn seither angehalten, darauf wartend, endlich wieder Luftholen zu können. Doch niemand scheint einen neuen Atemzug zu wagen.
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Hier im Rainbow Road Casino scheint es keine Traurigkeit zu geben, hier scheint sich all die Freude angesammelt zu haben, die Stellans in den letzten Wochen abhanden gekommen ist.
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Er fühlt sich so schlecht bei dem Gedanken, doch Freddie kann die verzerrten Fratzen der Melodramatik auf den Gesichtern der Bewohner Stellans nicht mehr sehen, die geheuchelte Anteilnahme, die theatralische Freudlosigkeit, die sowieso niemandem etwas bringt. Warum nicht Leidenschaft, warum nicht Ekstase im Angesicht der Katastrophe? Warum nicht Widerstand gegen verheerende Freudlosigkeit?
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Seit des Herbstfestes scheint sein Lachen immer viel zu laut, seine bunte Kleidung viel zu grell, sein Spaß fehl am Platz. Es ist, als hätte man Stellans den Atem geraubt, als hätte es ihn seither angehalten, darauf wartend, endlich wieder Luftholen zu können. Doch niemand scheint einen neuen Atemzug zu wagen.
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Es ist fast ein wenig gemein, wie Freddie in Eliyas offensichtlicher Scheu herumpult, aber das schlechte Gewissen bleibt selbstverständlich aus.
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Seine eigenen hatten ihn emotional meist so sehr mitgerissen - tun es immer noch -, dass er förmlich zersprungen wäre, hätte er seine Liebe nicht in die Welt hinausgeplärrt. Natürlich war er dabei auf Dauer immer weniger ernstgenommen worden, natürlich erntete die fünfzehnte ach so große Lovestory nicht mehr die gleichen Reaktionen wie die erste. Aufgehört hat er trotzdem nie.
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Auf der einen Seite brannte die Sehnsucht, alles in Ordnung zu bringen, Cassius' Stimme wieder zu hören, seinen trockenen Humor, seine ruhige Art, die ihm stets Halt gegeben hatte. Auf der anderen Seite war da diese lähmende Scham, die ihm ins Gesicht schlug, sobald er nur daran dachte, den ersten Schritt zu tun.
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Er dachte an die vielen kleinen Dramen der Vergangenheit, die ihm heute beinahe lächerlich erschienen. Damals hatte er keine Ahnung gehabt, wie schwer das Gewicht der Welt auf einem lasten konnte, wie zermürbend die Verantwortung war, wenn sie nicht mehr nur aus guten Schulnoten oder pünktlichen Heimkehrzeiten bestand. Als Kind war sein größtes Problem vielleicht gewesen, ob Mutter ihn beim Naschen erwischen würde. Heute drohten Dinge in seinem Innersten zu zerbrechen, von denen er fürchtete, dass kein Frosch der Welt sie mehr kitten könnte.
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Seine eigenen Erinnerungen an den Raum, der für ihn vorgesehen war, fühlten sich jedoch brüchig an. Kein echtes Heimatgefühl hatte sich hier je verankert.
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Alles in der Haltung seiner Schwester wirkte sicher, bedacht, verlässlich. Er beneidete sie um diese Fähigkeit, so leise und doch kraftvoll durch alles hindurchzugehen. Natürlich wünschte er sich manchmal, sie würde sich mehr öffnen, ihre eigenen Gefühle lauter äußern, doch genau diese Stille, die sie umgab, war auch der Grund, warum er sich in ihrer Nähe immer ein kleines Stück sicherer fühlte. Als könne nichts vollständig aus dem Ruder laufen, solange sie da war.
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Diese Ruhe war ihr eigenes Terrain, eine Festung, die sie meisterhaft bewohnte, während er selbst sich schon seit Tagen wie ein Eindringling in den eigenen Gedanken fühlte.
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Velmas Hände bewegten sich mit einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit. Jede Scheibe Brot, die unter dem scharfen Schnitt des Messers in gleichmäßige Portionen zerfiel, wirkte wie ein eigener, in sich abgeschlossener Vorgang. Streichen, legen, ordnen — die Ruhe, die sie dabei ausstrahlte, schien ihn fast körperlich zu umhüllen.
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”Man muss dem Cassidy zumindest eines lassen-” und dabei streicht er sich demonstrativ über die Oberlippe ”- ‘nen schicken Bart hat er ja schon.”
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Stattdessen war ihr sogar, als würde ihr mit jedem Schritt leichter ums Herz werden, wie als entfernte sie sich an Cassius’ Arm gehend von einer zentnerschweren Version ihrerselbst; von einer mit seelischem Ballast am Meeresboden verankerten Velma Lamb; als würde sie aufsteigen wie eine Luftblase, so leicht und voller Auftrieb, dem Mondlicht entgegen.
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[...]und eigentlich hätten sie sich hier voneinander verabschiedet, wenn die Straßen nicht plötzlich in eigenartige Verstummung gefallen wären. Wie als würde für eine Sekunde kein Geräusch auf der Welt existieren. Und als sie doch wieder existierten, die Geräusche, wirkte das Dunkel ein wenig dunkler, die Schattentiefen tiefer.
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